Winternacht
Grieve an unsere Seite, hoben uns in die Arme und trugen uns fort von Heathers toter Gestalt. Kaylin trat an unsere Stelle und tat etwas, das ich nicht sehen konnte, aber als wir uns noch einmal umdrehten, war die Leiche nicht mehr da. Stattdessen breitete sich eine rote Lache im Schnee aus, die an den Rändern bereits zu frieren begann. Ein Häufchen Asche wehte im Wind auf und zerstreute sich.
Ein Schauder schüttelte mich, dann seufzte ich und schmiegte mich an Grieves Schulter. Er küsste mich sanft auf die Wange, dann auf die Lippen, plötzlich wild und verlangend, und ich gab mich hin, verlor mich in dem Gefühl seiner Haut an meiner, seiner starken Arme, die mich hielten. Wir standen aneinandergeklammert dort, starr wie zwei verwurzelte Bäume, die Lippen aneinander, die Zungen verschlungen, bis der unfassbare Schmerz, meine Tante verloren zu haben, sie eigenhändig getötet zu haben, abklang und durch eine willkommene Taubheit ersetzt wurde.
Ich blickte mich um und sah, dass Chatter Rhiannon ebenfalls in den Armen hielt, sie streichelte und küsste, und mein Herz setzte einen Schlag aus. Genau so sollte es sein: Chatter und Rhiannon. Grieve und ich. Es fühlte sich richtig an. Es fühlte sich echt an.
Einen Moment lang geschah nichts, dann räusperte sich Kaylin. »Wir müssen weiter. Ich weiß, dass es hart ist, aber wir müssen zur Großvater-Zeder. Es ist nicht mehr weit. Kommt.«
Ich machte mich von Grieve los. »Du hast recht. Auf geht’s, Leute.« Als wir uns wieder in Bewegung setzten, war mein Herz schwer und gleichzeitig unfassbar leicht. Wir hatten soeben die Frau getötet, die mir in allem außer der direkten Blutlinie eine echte Mutter gewesen war, aber wir hatten sie auch befreit. Mysts Fängen entrissen. Wir hatten Heather ein letztes Geschenk gemacht: Wir hatten sie erlöst.
Ich ließ mich zurückfallen und griff nach Rhiannons Hand. Schweigend stapften wir nebeneinander durch den Schnee. Sie wirkte seltsam ruhig, aber ich wusste, wie sie sich fühlte: Die Taubheit war ein echter Segen.
Nach etwa zwanzig Minuten Wanderung sagte Grieve etwas zu Chatter. Auf der anderen Seite einer kleinen Lichtung ragte der Baum aus meinen Träumen auf – die Zeder, die laut Lainule den Eingang zu den unterirdischen Gängen markierte, in denen ihr Herzstein versteckt war.
»Großvater-Zeder«, flüsterte Grieve ehrfürchtig. Tatsächlich war der Baum höher gewachsen als alle anderen um ihn herum und hob sich dunkel gegen den Himmel ab, und sein Stamm war dick genug, um sich ein Häuschen darin zu bauen. »Jetzt müssen wir nur noch den Tunnel finden.«
Chatter drückte ein paar Farnwedel zur Seite. Er kniete sich, blies über den Schnee, und winzige Flammen sprangen von seinen Lippen und schmolzen den Boden frei, und einen Moment darauf sahen wir plötzlich die schimmernden Umrisse einer Tür mit einem Messinggriff. Auch diese Tür hatte ich in meinen Träumen gesehen.
»Kann noch jemand das sehen?«, fragte ich. Wir durften möglichst keine Spuren hinterlassen, wenn wir in den Gang hinabstiegen.
»Nur Wesen mit Cambyra-Blut«, antwortete Grieve.
Kaylin: »Er hat recht. Ich sehe nichts.«
Rhia blieb wie erstarrt stehen. »Aber … aber ich.«
»Was?« Ich fuhr zu ihr herum. »Du kannst es sehen?«
Sie nickte. Sie war blass geworden. »Ich sehe eine Tür.«
»Heißt das dann …? Grieve? Bist du sicher, dass nur Cambyra-Feen das sehen können? Denn wenn das stimmt, dann hieße das ja …«
»Dass Rhiannon ebenfalls Cambyra-Blut in den Adern hat.« Grieve sah sie direkt an. »Du kannst wie Chatter mit Feuer umgehen.«
»Nein«, flüsterte sie. Unwillkürlich hatte sie die Hand an die Kehle gehoben. »Das kann nicht sein. Meine Mutter hätte es mir doch gesagt.«
»Meine Mutter hat mir nie etwas gesagt. Und Heathers letzte Worte waren, dass du wissen wirst, wer dein Vater ist, wenn es so weit ist.« Während ich sie ansah, keimte ein Verdacht in mir auf, aber ich behielt ihn für mich, da ich im Moment noch nicht über diese Möglichkeit nachdenken wollte.
»Kommt jetzt. Wir können noch lange genug über Rhiannons Erbgut spekulieren, wenn wir Lainules Schatz gefunden haben.« Grieve berührte den Griff der Tür, und sie sprang ihm entgegen, als habe sie nur darauf gewartet.
Ich spähte in den finsteren Schlund der Öffnung. Plötzlich sah ich Farben wirbeln, gold und grün und leuchtend rot. Mein Traum. Es ist alles wie im Traum .
Ich blickte auf. »Hier bleibt uns wohl nur der Glaube.
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