Winternacht
den Schnee, folge ihr durch die Wälder, durch den tiefen, finsteren Forst. Wie ein goldenes Garn, das sich entrollt, wie ein goldener Pfeil wird meine Stimme dir den Weg weisen. Siehst du die Worte im Windschatten? Spürst du, wie sie dich rufen?«
Grieve atmete langsam aus, und seine Lider begannen zu flattern, und erst jetzt begriff ich, dass Chatter ihn hypnotisierte. Rhia und Kaylin standen wie erstarrt an meiner Seite und warteten.
»Ja, ich sehe sie«, antwortete Grieve schließlich ruhig. Das Knurren war fort, die Stimme emotionslos.
»Folge meinen Worten, und lass dich von ihnen durch den Schnee führen.« Er hielt inne, dann fuhr er fort: »Es beginnt zu tauen, der Schnee schmilzt und wird zu einem Rinnsal. Das Rinnsal wächst und schwillt zu einem Bächlein an, und sie fließen zusammen zu Flüssen, dann zu reißenden Strömen, die sich durch den Wald wälzen. Sieh nur, wie der Schnee verschwindet, wie die Sonne höher emporsteigt, weil der Sommer das Land zurückerobert. Kannst du es sehen? Fühlst du die Wärme auf deinem Gesicht, siehst du das Licht zurückkehren?«
»Ja, ich sehe es. Ich fühle es.« Die Sehnsucht in der Stimme meines Geliebten drang mir bis ins Mark. Wir mussten ihn aus Mysts Fängen befreien und sein Blut von ihrem Einfluss reinigen, und das bald – es musste eine Möglichkeit geben.
»Lass dich von dem Licht umarmen, zurückholen, dich wieder zu deinem Herzen, deinem Innersten, deinem Volk zurückführen. Lass Licht in deine Augen. Lass das Lied des Sommers in dein Herz.« Chatter kniete neben Grieve und nahm behutsam sein Kinn in die Hand. Ich konnte sehen, wie sehr es ihn peinigte, seinen besten Freund unter dem Gewicht von Mysts Fluch taumeln zu sehen.
Nach einem weiteren Moment holte Grieve wieder tief Atem und blickte zu Chatter auf. Obwohl keine Worte ausgetauscht wurden, hörte ich das Danke deutlich im Windschatten. Chatter bot Grieve die Hand, und als Grieve sich hochzog, nickten sie aneinander zu. Der Augenblick war privat, und wir anderen sahen weg. Ich fühlte mich hilflos und hoffnungslos. Doch als ich an die Wand zurücksank, durchfuhr mich ein zartes Prickeln wie ein Echo von Lainules Herzstein, und ich straffte die Schultern. Es gab noch Hoffnung.
Lainules Wesen war überall zu spüren. Der Gang schien voll davon, und es war fast, als sei sie selbst hier. Ich wandte mich zu den anderen um. Ich hatte beschlossen, Grieve nicht jetzt danach zu fragen, was gerade geschehen war, sondern einfach weiterzumachen.
»Können wir?« Ich war nicht sicher, ob er wieder die Führung übernehmen wollte, aber wie selbstverständlich setzten Grieve und Chatter sich wieder an die Spitze.
»Ja.« Chatter nickte mir zu. »Wir sind bereit.«
Während wir uns von den leuchtenden Wolken des Portals entfernten, schienen die gläsernen Steine der Wände ein Eigenleben anzunehmen. In jedem funkelte und blitzte es, und es war, als würden wir durch einen Tunnel aus Sternschnuppen wandern.
Wie lange würden wir gehen müssen? Und wie sollten wir den Herzstein finden? Am liebsten hätte ich die Sorgen aus meinem Kopf herausgeschüttelt. In letzter Zeit schien ich nur noch auf Probleme fixiert zu sein, und das ständige Hinterfragen aller Schritte, die wir taten, machte mich mürbe. Dazu kam, dass es zwei Tage her war, dass ich zum letzten Mal geflogen war, und es fühlte sich nicht gut an. Nun, da ich meine Eulennatur entdeckt hatte, wurde es zwingend, regelmäßig die Flügel auszubreiten.
Apropos. Ich warf einen Blick über die Schulter. Rhiannon ging hinter mir. Sie hatte die Tür gesehen. Und wenn nur Cambyra das konnten, bedeutete das … Ich ließ mich von ihr einholen und nahm ihre Hand. Sie zuckte erschreckt zusammen.
»In Gedanken versunken?«, fragte ich.
Sie nickte. »Ja. Ich denke …«
»An deinen Vater.«
Wieder ein Nicken. »Wenn ich wie du bin, dann wären wir wirklich Zwillingscousinen. Dennoch frage ich mich … Meinst du, Wrath ist auch mein Vater?«
Ich hob die Schultern. »Keine Ahnung. Möglich wär’s. Und dann wären wir tatsächlich Schwestern.« Ich ertappte mich dabei, dass ich es mir wünschte. Rhia war mir immer schon wie eine Schwester gewesen, und zu erfahren, dass sie es tatsächlich auch genetisch war, hätte mich sehr glücklich gemacht. »Das wäre toll.«
Sie lächelte. »Das würde mir auch gefallen. Ich mag Wrath.«
»Na ja, wir werden wohl abwarten müssen, bis wir wieder zu Hause sind.« Ich drückte ihre Hand. »Wenn wir Lainule den
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