Winternacht
Wildling-Fee, sondern ein Geist, der eine Gestalt angenommen hatte, sie war reine Energie, die niemals menschlich oder stofflich gewesen war, sich jedoch in eine Maske der Schönheit gehüllt hatte.
Die Jungfrau des Wissens streckte langsam ihren Arm durch das knisternde Energiefeld und hielt mir ihre Hand hin. Ich sog scharf die Luft ein.
Zuversicht, dachte ich. Nun half nur noch Zuversicht. Also streckte auch ich langsam die Hand aus und legte sie in ihre. Sie fühlte sich weniger nach Fleisch und Blut an als nach verdichteter Luft.
Sie schlang ihre Finger um meine und zog mich mit einer flüssigen Bewegung durch das Kraftfeld. Ich keuchte, als tausend Nadeln mich durchstachen. Die Jungfrau des Wissens lachte, aber es klang weder nett noch tröstend. Ihr Blick war auf mein Gesicht geheftet, und ich war wie gebannt, als sie sich umwandte und mich hinter die Stelle führte, an der sie gesessen hatte. Dort, an der Wand, sah ich die Umrisse einer weiteren Tür.
»Dürfen meine Freunde und ich dort hindurchgehen? Ist das der Weg, den wir nehmen müssen?« Ich war verwirrt. Sollte es so einfach sein?
Wieder schlug sie ihre Harfe an. Wieder erklang ihre Stimme, und aus dieser Nähe drangen die Schwingungen durch meinen Schädel wie von einem mächtigen Gong erzeugt. »Du hast die Wahrheit gesprochen. Das ist der Weg. Und deine Freunde … Sie haben ihr Leben in deine Hand gelegt. Sie können dich begleiten, wenn sie es wagen.« Sie trat zurück, und das Kraftfeld öffnete sich. Die anderen kamen nacheinander hindurch. Alle vier sahen tödlich erschöpft aus, und ich betrachtete sie verwirrt. Was war geschehen?
Die Jungfrau des Wissens zeigte auf Kaylin. »Der Erste in der Reihe. Nimmst du deine Verantwortung an? Du bist der Kundschafter, der Späher.«
Er fuhr leicht zusammen, rieb sich die Stirn und trat vor mich. »Ja.«
Dann zeigte sie auf mich. »Du bist die Zweite, Steuerfrau, die Eroberin. Wie diese Suche ausgeht, hängt von dir und deinen Entscheidungen ab. Und du«, sie wandte sich an Rhiannon, »bist die Dritte. Die Wartende. Frage nicht, auf was du wartest, du wirst es bald genug erfahren.« Zu Chatter sagte sie: »Und du, Beschützer, bis der Vierte.« Und schließlich zu Grieve: »Der verwundete König. Du gehst zuletzt.«
Verwundeter König? Was meinte sie? Doch obwohl mich die Beinamen, die sie uns gegeben hatte, neugierig machten, hielt ich den Mund. In den vergangenen Tagen hatte ich gelernt, dass Schweigen manchmal die klügste Strategie war. Grieve nickte und nahm seinen Platz ein.
Die Jungfrau des Wissens begann wieder zu spielen, und eine Melodie vibrierte in der Luft und in den Wänden. Vor unseren Augen wurde der Umriss der Tür zu einem funkelnden Schleier. Ich sah nicht, was jenseits lag, aber nun setzte von dort ein Summen ein. Kaylin sah mich an und trat ohne ein weiteres Wort in die Schatten hinein.
Wie lange der Weg hindurch dauerte, war schlecht abzuschätzen. Irgendwann traten wir hinaus in eine goldene Helligkeit, als dringe am Mittag Sonnenlicht durch ein üppiges Blätterdach. Die Halle, in der wir angekommen waren, dehnte sich so weit aus, dass es uns vorkam, als wären wir unter freiem Himmel statt tief unten in der Erde.
»Ich fühle mich, als hätte ich ein Weilchen geschlafen.« Ich gähnte, aber mein Körper fühlte sich tatsächlich erfrischt an wie nach einem Nickerchen und einer Dusche.
»Ich mich auch. Sieh nur.« Rhiannon flüsterte instinktiv.
Ich wandte mich um und folgte blinzelnd ihrem ausgestreckten Finger. Dort, inmitten der Halle, erhob sich ein Sockel aus knorriger Eiche und Efeu – echtem Efeu, Ranken aus einem echten Wald, nicht das fremde bleiche Gewächs der Höhle, die wir durchwandert hatten. Der Sockel ragte gute fünf Meter in die Luft, und eine Wendeltreppe führte hinauf. Bis auf die Stelle, an der die Treppe begann, zog sich um den Fuß herum ein tiefer Graben, und als ich hineinblickte, konnte ich den Grund nicht ausmachen. Doch er war breit genug, dass man hineinfallen konnte, und ich wich hastig zurück, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Ich sah zur Treppe. »Ich muss hinauf.« Der Drang war so stark, dass ich ihn nicht ignorieren konnte.
»Ist das …?« Rhiannon sah mich abwartend an.
»Ich denke, ja.« Ein Wummern wie ein Herzschlag pulsierte in der Eichensäule, die bis tief hinein in die Erde reichte. Dies war das Herz des Sommers, der Quell, aus dem er entsprang. Dies war Lainules Innerstes, ihre Essenz, ihr Leben.
Die
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