Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Winternacht

Winternacht

Titel: Winternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmine Galenorn
Vom Netzwerk:
anderen warteten schweigend, während ich den Anstieg begann. Die Stufen aus grünem und goldenem Glas wanden sich um die Baumsäule. Sie waren glatt und rutschig, und es gab kein Geländer, also hielt ich mich innen und lehnte mich an die Eiche, während ich Stufe für Stufe hinaufstieg. Ein falscher Schritt, und ich würde abstürzen und in den Graben fallen, und ich wollte mir nicht einmal vorstellen, in welchen Tiefen ich aufschlagen würde.
    Nach ungefähr einem Drittel rutschte ich aus und krachte schwer auf Hände und Knie. Zitternd richtete ich mich auf und setzte mich wieder in Bewegung. Das Geräusch meiner Stiefel auf den gläsernen Stufen hallte durch den Saal; meine Freunde warteten unten und blickten mucksmäuschenstill zu mir herauf. Sie konnten mir nicht helfen. Ich war von Lainule mit dieser Aufgabe betraut worden, und ich würde die Einzige sein, die den Herzstein holen konnte.
    Als ich mich der Spitze näherte, begannen die Efeuranken sich zu bewegen. Ulean wehte zu mir. Pass auf. Du bist noch nicht aus den Schwierigkeiten heraus.
    Welche denn?
    Aber ich hatte nicht einmal mehr Zeit, auf eine Antwort zu warten. Einer der Tentakel wand sich auf mich zu und schlang sich um mein Handgelenk. Ich versuchte mich zu befreien, aber die Ranke war dick und stark und wickelte mich ein, wie eine Spinne ihre Beute einspann. Bald hatte ich Mühe zu atmen, konnte mich aber auch nicht mehr schnell genug bewegen, um mich herauszuwinden. Unter mir hörte ich Grieve rufen. Im nächsten Moment erzitterte der Turm, die Ranke zog sich von mir zurück, und ich polterte die Treppe herab, bis ich mich wieder fangen konnte. Wieder bebte der Turm, und ich sah nach unten.
    Frost hatte die Eiche gepackt und arbeitete sich aufwärts. Grieve stand auf der Treppe, der Mund erschlafft, den Blick starr, während Eis sich von seinen Füßen über die Treppe ergoss und riesige Risse hineinsprengte.
    Kaylin verschwand, während ich angstvoll nach oben blickte. Ich war nicht mehr weit davon entfernt, aber die Risse wanderten im Zickzack aufwärts, und bald würden die Stufen unter meinen Füßen bröckeln. Also begann ich zu rennen, stolperte, fing mich und hastete hinauf zu der Plattform an der Spitze.
    Grieve sprang von der untersten Stufe und stellte sich wieder neben Rhiannon, als der untere Teil der Treppe auch schon einstürzte und die Brocken im Graben verschwanden. Ich hatte nicht mehr viel Zeit. Ich sah mich hektisch oben um, und da war es: ein gläsernes Kästchen, und darin sah ich einen funkelnden Smaragd, der lebendig pulsierte. Ich riss das Kästchen an mich, ohne zu wissen, was ich tun sollte. In diesem Augenblick materialisierte sich Kaylin auf dem Absatz neben mir.
    »Kannst du beim Traumwandeln etwas tragen?«
    »Ja, kann ich. Das Kästchen und deine Kleider, da du dich in deine Eulengestalt verwandeln und hinunterfliegen musst. Die Treppe ist nicht mehr zu benutzen. Los doch – zieh dich aus.«
    Ich hielt die Luft an, unwillig, ihm die Truhe auszuhändigen, aber ich hatte keine Wahl. Also drückte ich sie ihm in die Hände und riss mir die Kleider vom Leib, so schnell es ging.
    Die Treppe war bereits zur Hälfte fort und barst und splitterte immer weiter aufwärts. Ich gab Kaylin all meine Sachen, bis auf den Mondstein-Anhänger, und er verblasste wieder zu einem Schatten. Ich sah hinab. Nur noch wenige Stufen, dann würde der Absatz bröckeln. Ich holte tief Luft und trat an den Rand. Ich spürte es unter meinen bloßen Füßen knistern, als ich meinen Mut zusammennahm, die Arme ausbreitete und im freien Fall abwärtsraste.
    Arme zu Schwingen, Mensch zu Vogel, Nägel zu Krallen. Ulean fing mich im Aufwind, und ich schwang mich empor und segelte durch den Saal. Sie tat so gut, diese Freiheit, diese Grenzenlosigkeit, diese … Nanu? Was war das? Von hier aus sah ich Mulden, die man in die Wand geschlagen hatte. Ich folgte ihnen hinauf, und als ich die Decke erreicht hatte, entdeckte ich eine Falltür direkt vor einem schmalen Felsvorsprung. Das ist unser Ausgang! Ich wendete, um zu den anderen zurückzufliegen, als die Tür plötzlich aufbarst und Schnee und Eis herabstürzte.
    Fuck! Drei Schattenjäger blickten mit triumphierender Miene hindurch. Und hinter ihnen – Myst!
    Ich trudelte abwärts und verwandelte mich, während ich landete. Ich wandte mich zu Kaylin um und flüsterte: »Du musst traumwandeln. Du musst mit dem Herzstein entkommen. Los!«
    Er warf mir meine Sachen zu, und sein Blick war gequält. Er

Weitere Kostenlose Bücher