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Winternacht

Winternacht

Titel: Winternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmine Galenorn
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wohl nicht herausfinden, was die Schwarze Agnes bewacht hat, und ich denke, wir brauchen, was dort liegt.« Und damit wandte er sich wieder um und watete immer weiter hinein, bis das Wasser etwa Brusthöhe hatte. Er konzentrierte sich, holte Luft und tauchte. Ich versteifte mich und wartete nur darauf, dass irgendein Ungeheuer aus den Tiefen durch die Oberfläche brach, aber nichts geschah.
    Stattdessen kam Grieve mit einer kleinen Messingtruhe in der Hand herauf. Die Kiste hatte ungefähr die Größe eines klappbaren Schachbretts, und ihr Deckel war mit geschmiedeten Eichenblättern geschmückt. Sie besaß kein Schloss, schien aber nichtsdestoweniger fest verschlossen.
    Grieve sah sie einen Moment lang stumm an, dann reichte er sie mir. »Mach du auf. Ich kann nicht.«
    Ich sah ihn fragend an, aber er gab keine weitere Erklärung. Als ich vorsichtig den Deckel berührte, durchfuhr ein Beben meine Finger, und mir stockte der Atem. Ein kühler Wind kam auf, und Ulean wehte um mich herum.
    Ich öffne doch nicht etwa die Büchse der Pandora, oder?
    Nein, aber du stößt die Tür zu einem finsteren Pfad auf, der dich auf eine noch finsterere Reise bringt. Dennoch musst du es tun. Lainule hat ihr Einverständnis gegeben, deswegen werde ich bei dir bleiben, wohin du auch gehst. Wenn du das Kästchen aufmachst, gibt es kein Zurück. Wenn du es aufmachst, ist dein Schicksal besiegelt.
    Weißt du, was darin ist?
    Ja. Ich war dabei, als es vor tausend und abertausend Jahren im Wasser versenkt wurde. Ich war dabei, als die Schwarze Agnes damit betraut wurde, es zu bewachen. Nur wenige hätten sie töten können, aber einer Indigo-Fee hatte sie nichts entgegenzusetzen.
    War sie der Grund, warum Grieve mit uns gehen musste? Vielleicht war nicht nur die Tatsache, dass Grieve ursprünglich Untertan des Sommerreichs gewesen war, ausschlaggebend gewesen. Wenn wir die Wachen des Sommers ausschalten mussten, dann brauchten wir jemanden von außerhalb, denn nicht einmal Chatter hätte die Wildling-Fee außer Gefecht setzen können.
    Grieve ist aus vielen Gründen hier. Wir bewegen uns auf den Höhepunkt von Ereignissen zu, die in Gang gesetzt wurden, als du zum ersten Mal Grieve begegnet bist.
    Als ich Cherish war, richtig?
    Nein, lange davor. In Zeiten, an die sich bisher keiner von euch beiden erinnert, hatte das Schicksal Einfluss auf die Machenschaften des Sommerreichs und durch dich auf den Indigo-Hof. Du kannst durchs Feuer gehen, Cicely, oder du kannst die Truhe wieder ins Wasser sinken lassen und gehen. Aber deine Entscheidung, wie auch immer sie ausfällt, verändert die Geschicke beider Gefilde . Wie eine Triebkraft wehte Ulean um mich herum.
    Ich starrte die Kiste an. Meine Hand lag auf dem Deckel. Ich spürte es. Sie hatte auf mich gewartet. Seit tausend und abertausend Jahren wartete sie auf mich.
    Ich musste mich entscheiden. Ich blickte zu Grieve auf. Wir könnten zusammen davonlaufen . Der Gedanke schlug so unvermittelt in mein Bewusstsein ein wie ein Blitz – und verschwand genauso schnell wieder. Wohin hätten wir laufen sollen? Ließen wir Myst gewinnen, würde ihr Volk sich paaren, vermehren und ausbreiten, und schließlich würde ein guter Teil der Welt einmal mehr mit einer dicken Eisschicht überzogen sein – nur würde dieses Eis gemischt sein mit dem gefrorenen Blut unzähliger Opfer.
    Also schüttelte ich den Kopf. Ich werde nicht einfach gehen. Ich stelle mich der Herausforderung, was immer das für meine Zukunft bedeuten mag.
    Dann bist du wahrlich klug erwählt worden . Öffne den Deckel, Cicely.
    Uleans Brise hüllte mich ein und kräuselte die Oberfläche des Tümpels.
    In der flachen schmalen Kiste lagen zwei Schlüssel, der eine golden, der andere silbern. Sie schimmerten, und als ich vorsichtig hineingriff und den silbernen in die Hand nahm, spürte ich ein kühles Prickeln, das sich in meinem Körper ausbreitete. Ich sog scharf die Luft ein, und ohne zu wissen, was mich ritt, wandte ich mich um und hielt Rhiannon die Kiste hin. Sie hielt meinen Blick einen Moment lang fest, dann nahm sie den goldenen Schlüssel heraus.
    Hand in Hand wandten wir uns dem Tümpel zu. Etwas darin lockte mich und Rhiannon anscheinend auch. Während wir noch hinsahen, begann das Wasser plötzlich zu blubbern. Es schäumte und sprudelte und schlug Wellen, die sich in konzentrischen Kreisen ausdehnten, und dann wallte das Wasser plötzlich aus seinem flachen Bassin auf und rollte in einer anwachsenden Flutwelle auf uns zu.

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