Winternacht
tat es. Die zwei anderen Schattenjäger waren durch die Falltür geflohen und blickten nun an Mysts Seite zu mir herab. Ihr Mund bildete ein entsetztes »Oh«, und zum ersten Mal sah ich Verunsicherung in ihren Augen. Ich ignorierte Ulean und kletterte weiter aufwärts, ohne meinen Blick von Myst zu nehmen. Sie sollte spüren, wie sich ihre eigene Waffe anfühlte. Der Wind heulte und trieb mich auf sie und ihre Jäger zu.
Doch bevor ich oben ankam, zog sie sich zurück, und sie waren fort. Ich knurrte vor Enttäuschung und wollte die Verfolgung aufnehmen, aber die Böen ließen nach, und Ulean nutzte die Gelegenheit, um sich gegen mich zu werfen. Reflexartig griff ich nach den Mulden, um mich festzuhalten, und ließ das Messer fallen.
Als meine Gedanken sich zu klären begannen, keuchte ich entsetzt auf und schüttelte den Kopf. Ich schaute hinab. Plötzlich war ich mir nicht sicher, wie ich wieder hinuntergelangen sollte. Ich war erschöpft, und das Klettern erschien mir plötzlich nicht mehr so problemlos zu bewältigen wie noch ein paar Minuten zuvor. Zum Glück machte Grieve sich bereits auf den Weg.
Er erreichte mich, bevor ich abstürzte, und hielt mich fest, während er sich mit einer Hand zum Sims hinaufzog. Dann blickte er herab zu Chatter und machte eine Geste. Chatter sagte etwas zu Rhiannon. Sie hob den Fächer auf, Chatter nahm vorsichtig das Obsidianmesser, und beide begannen, die Wand hinaufzuklettern.
Wenige Minuten später saßen wir draußen vor der Falltür im Schnee und starrten den Pfad entlang, den Myst und ihre Schattenjäger sich gebahnt hatten. Es schien kurz vor der Morgendämmerung zu sein, und sie waren nirgendwo zu sehen. Fast tat es mir leid. Ich hätte wieder nach Fächer und Messer gegriffen und es ein für alle Mal hinter mich gebracht, wenn es denn hätte sein müssen, aber in meinem Inneren meldete sich eine Stimme. Selbst mit Messer und Fächer kannst du sie nicht besiegen. Du brauchst die Hilfe des Sommers .
Ich schluckte mein Bedauern herunter. Vergib mir, Ulean. Ich wollte nicht so mit dir reden .
Doch, Cicely, das wolltest du. In jenem Moment wolltest du. Lainule hat dich gewarnt, dass ein übermäßiger Gebrauch dich der Macht des Fächers ausliefert. Er verändert dich und lässt dich immer mehr mit dem Element verschmelzen. Setze ihn zu oft und mit zu viel Kraft ein, und er saugt dich irgendwann ganz ins Reich der Luft. Doch dort wirst du ein Hybridwesen, ein Windelementar, ohne in den Gefilden heimisch zu sein, und die meisten, denen das passiert ist, sind wahnsinnig geworden.
Ich dachte einen Moment lang über ihre Worte nach, dann gab ich den anderen weiter, was geschehen war. »Die Verbindung vom Messer mit dem Wind, der mich kontrolliert hat, hätte mir die Möglichkeit gegeben, die Verfolgung aufzunehmen. Vielleicht hätte ich sie nicht töten können, wohl aber ernsthaft verwunden.«
»Aber dann wärst du nicht mehr als du selbst zurückgekommen.« Rhia schüttelte den Kopf. »Dein Vater hat recht. Das Messer ist zu gefährlich für dich. Du musst erst lernen, wie du mit dem Obsidian umgehen kannst.«
»Wir mussten aber etwas tun. Myst hätte uns sonst umgebracht.« Ich verzog das Gesicht. »Ich glaube auch, dass ich lernen muss, das Messer zu beherrschen, aber wir hatten einfach zu wenig andere Optionen. Nun weiß ich wenigstens, wovor Lainule und Ulean mich immer gewarnt haben. Die Macht des Fächers ist wirklich gewaltig. Sie wird mich verändern – das hat sie schon. Der Wind hätte mich fast mitgenommen.«
»Wir sollten jetzt besser ins Lagerhaus zurück.« Chatter warf einen Blick zum Himmel. »Bald bricht der Morgen an, dafür sei den Göttern Dank. Myst und ihre Jäger dürften sich wieder zurückgezogen haben.«
»Dann lasst uns losmarschieren.« Grieve erhob sich und streckte mir die Hand entgegen. »Bist du müde?«
»Nein. Komischerweise eher aufgekratzt. Und das Nickerchen, das wir im Sommerreich gemacht haben, war sehr erfrischend. Was ist mit euch – Chatter, Rhia?«
»Mir geht’s ähnlich«, erwiderte Chatter und sah zu Rhia, die nickte. »Dann können wir wohl gehen.«
Ich nahm Grieves Hand und ließ mich hochziehen. »Hat einer eine Ahnung, welchen Tag wir haben? Losmarschiert sind wir am Montag.«
Chatter blinzelte, dann schloss er die Augen. Nach einem Moment schlug er sie wieder auf und schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Aber du hast doch dein Telefon. Ruf besser Peyton an.«
»Da werde ich wohl eine Nachricht hinterlassen
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