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Winternacht

Winternacht

Titel: Winternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmine Galenorn
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Mich packte die Angst – so viel Wasser konnte uns ertränken –, doch plötzlich hörte ich eine Stimme in mir flüstern, dass wir ruhig bleiben und warten sollten.
    »Stellt euch hinter uns«, befahl ich den Männern barsch, und sie gehorchten ohne Widerworte.
    Die riesige Welle raste schäumend auf uns zu. Wir holten tief Luft, schlossen die Augen und wappneten uns, aber das gewaltige Platschen blieb aus, die Massen schlugen nicht über uns zusammen. Als ich vorsichtig ein Auge öffnete, sah ich um uns herum Wasserwände aufragen. Vereinzelte Tropfen trafen uns, doch wir blieben trocken, denn die Flut hatte sich geteilt und strömte links und rechts an uns vorbei.
    Ich kam mir vor, als befänden wir uns mitten in einem schlechten Katastrophenfilm. Die Brandung rauschte eine scheinbare Ewigkeit an uns vorbei, aber es waren vermutlich nur wenige Minuten, dann war der Weg vor uns frei.
    Ich blickte hinter uns und sah, dass das Wasser durch den schmalen Gang, durch den wir gekommen waren, hinausrauschte. Die Schwarze Agnes war mit der Flut davongespült worden.
    »Sieh nur!« Rhiannons ehrfürchtiges Flüstern ließ mich wieder herumfahren. Dort, in der Mitte des Kraters, der der Teich gewesen war, hatte sich aus dem Boden eine Säule erhoben. Sie bestand aus etwas, das nach Schädeln aussah, und die Knochen waren besetzt mit Amethysten, Granat, Peridot und Bergkristall. Der grausige Turm hatte in der Mitte eine Tür mit zwei Schlüssellöchern, oben Gold, unten Silber.
    Ein Beben setzte in meinen Füßen ein und arbeitete sich hinauf bis zu meinem Herzen. Das also war es. Das war der Anfang unserer letzten Etappe. Wir näherten uns Lainules Herzstein. Ich blickte zu Rhiannon, und sie nickte. Wir betraten den Krater und gingen hinunter auf den Turm zu.
    Grieve, Chatter und Kaylin folgten uns schweigend, ohne unser Tun in Frage zu stellen. Erst als wir unten angekommen waren, konnten wir die wahre Höhe des Turms ausmachen. Er war aus dem Boden gewachsen wie ein riesiger Stalagmit und ragte gute sechs Meter über uns auf. Die Schädel waren mit Arm- und Beinknochen zu einem grausigen Wandteppich verwoben.
    Die Knochen waren grellweiß, die Edelsteine, mit denen sie besetzt waren, blitzten und funkelten. Ich streckte die Hand aus, um einen der Schädel zu berühren, doch ein Zischeln ließ mich innehalten. Aus der leeren Augenhöhle kam eine goldgrüne Schlange und erstarrte in drohender Wartehaltung. Ich nickte ihr zu. Auch hier gab es Wächter. Wir mussten uns sehr behutsam vorantasten.
    Ich warf Rhia einen Blick zu. »Bist du bereit?«
    Sie nickte. »Ja. Und ich glaube, wir … wir müssen es gleichzeitig machen.«
    Und so traten wir zur Tür, steckten die Schlüssel ein, zählten bis drei und drehten sie um.

12. Kapitel
    L angsam schwang die Tür auf; die Schlüssel blieben stecken. Der enge Bogengang sah ähnlich aus wie der Tunnel am Anfang unserer Reise und besaß einen weichen Glanz, als sei er aus dunklem Glas gefertigt.
    Ich sah die anderen an, dann trat ich hindurch. Stille ließ sich auf uns herab, und wieder spürten wir den Druck uralter Magie auf unseren Schultern.
    Grieve drängte sich zu mir nach vorn und hielt mich zurück. »Lass Kaylin die Führung übernehmen. Ich spüre, dass er hier gefordert ist.«
    Ich nickte und drückte mich gegen die Wand, um Kaylin durchzulassen. Wir operierten nun wie ein einzelner Organismus und vertrauten den Instinkten des jeweils anderen blind. Kaylin blieb vor mir stehen und berührte meine Wange.
    »Du und Rhiannon … das Leben wird nie mehr so sein wie früher«, sagte er. Dann setzte er sich an die Spitze. Wir anderen folgten ihm nacheinander – erst ich, dann Rhia, Grieve und zum Schluss Chatter.
    Der Gang war kurz und mündete in einen Raum. Davor saß eine einsame Maid. Ich hätte sie ein Mädchen genannt, doch sie trug ein fließendes Kleid, und ihr golddurchwirktes Haar ergoss sich über ihre Schultern. Sie wirkte zerbrechlich wie ein Schmetterling in einer starken Bö. Zuerst dachte ich, dass es sich um einen Geist handelte, und vielleicht stimmte das ja auch, aber nie und nimmer würde einer von uns sie anrühren, um es herauszufinden. Die Energie, die sie umgab, war so stark, dass sie uns wie eine riesige Hand zurückschob und uns daran hinderte, ihr zu nahe zu kommen.
    Sie spielte auf einem Instrument, das wie eine kleine Harfe aussah. Ich lauschte und versuchte etwas aufzufangen, aber die Töne wurden vom Wind weggetragen, sobald sie von den Saiten

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