Winternacht
müssen; Wrath wollte sie und Luna mit ins Sommerreich nehmen, und sie werden ihr Handy erst wieder benutzen können, wenn sie wieder daraus auftauchen.« Ich holte mein Handy hervor. »Hoffentlich hat Kaylin es geschafft.«
»Ja, das hoffe ich auch.« Rhiannon sah sich um. »Wo in aller Welt sind wir? Haben wir auch nur annähernd eine Ahnung? Der Wald sieht aus wie überall. Wir könnten zehn Minuten oder zwanzig Meilen von der Straße entfernt sein.«
Ich wählte Peytons Nummer und hinterließ eine Nachricht.
Dann versuchte ich es bei Kaylin. Nichts. Ich seufzte und schob das Handy eingeschaltet in die Tasche zurück. »Welche Richtung?«
Grieve blickte zum ersten Lichtschimmer. »Dort ist Osten. Wir sollten nach Westen.«
Als wir uns in Bewegung gesetzt hatten und eine Weile durch den Schnee gestapft waren, stellte ich fest, dass ich mich merkwürdig fühlte. Nicht merkwürdig im Sinne von flau im Magen, sondern … verändert. Etwas war bereits mit mir geschehen. Ich zog den Fächer aus meiner Tasche. Lainule und Ulean hatten mich mehr als einmal gewarnt, ihn zu oft einzusetzen, und ich hatte nicht gewusst, warum. Nun betrachtete ich ihn misstrauisch und fragte mich unwillkürlich, ob ich noch einmal den Mut haben würde, ihn zu benutzen.
Chatter hatte mir mein Messer noch nicht zurückgegeben, und im Augenblick war mir das ganz recht so. Wenn ich ehrlich war, machte mir die enorme Wucht meiner Gefühle eine höllische Angst. Sie erinnerten mich nur allzu sehr an mein früheres Leben als Mysts Tochter. Ich wollte mich nicht daran erinnern, aber jeden Tag wurde es deutlicher, dass ich die Tatsache akzeptieren und lernen musste, wie ich das Potenzial nutzen konnte. Davonlaufen funktionierte jedenfalls nicht.
Myst hatte Angst vor mir gehabt, als mich der Wind und der Blutdurst des Obsidianmessers beherrscht hatten. Das war mehr als nur gut, denn wenn sie echte Angst empfand, würde sie zögern und zweifeln und vielleicht Fehler machen. Wann immer wir sie zwangen, sich auf uns einzustellen, wann immer wir sie aus dem Gleichgewicht brachten, kamen wir einen Schritt näher an einen Sieg heran.
Während wir uns weiter durch den tiefen Schnee kämpften, klingelte das Telefon. Inzwischen war deutlich zu sehen, dass der Tag angebrochen war, auch wenn eine dicke Wolkendecke die Sonne verbarg.
Ich fischte mein Handy aus der Tasche. Peyton. Und sie klang unendlich erleichtert. »Bin ich froh, dass es euch gutgeht! Das tut es doch, oder? Wir haben seit zwei Tagen nichts von euch gehört und sind fast durchgedreht vor Sorge.«
Dieses Mal waren wir also zwei Tage lang weg gewesen. Es machte mich langsam ein wenig nervös, nie zu wissen, wann man wieder in der Wirklichkeit ankommen würde. »Und Lainule? Ist sie noch am Leben?«
»Ja, aber sie ist ungeheuer schwach. Kaylin ist vor ein paar Stunden mit dem Herzstein gekommen, aber Wrath sagt, du musst diejenige sein, die ihn ihr zurückgibt. Wo seid ihr jetzt? Irgendwo in der Nähe einer Straße?«
»Keine Ahnung. Wir sind in westlicher Richtung unterwegs, aber wir stecken noch im Wald. Könnte Wrath nicht über den Wald fliegen und nach uns suchen? Wir sind an einer anderen Stelle herausgekommen, als wir hineingegangen sind.«
Peytons Stimme hallte, als sie mit jemand anderem sprach. Nach einem Moment war sie wieder am Telefon. »Cicely? Er ist unterwegs. Stellt euch irgendwo an eine freie Stelle, so dass er euch sehen kann. Sobald er euch entdeckt, wird er landen, und dann ruft ihr mich wieder an.«
»Wo seid ihr? Ist Lunas Schwester angekommen?«
»Ja, und wir haben tolle Neuigkeiten. Na ja, potenziell tolle. Aber darüber reden wir später. Los jetzt, sucht euch eine Stelle, wo Wrath euch sehen kann. Was uns angeht … tja, wir sind momentan bei Lannan. Während ihr weg wart, ist hier einiges passiert, und nicht alles lief gut. Und Cicely – sei vorsichtig. Geoffrey und Leo sind unterwegs, und sie wollen dich und Rhiannon immer noch in die Finger bekommen.«
Wir legten auf, und ich sah mich um. »Wir brauchen eine Lichtung, auf der wir auf Wrath warten können. Und haltet die Augen auf. Es könnten Tagesboten unterwegs sein.« Was ich damit meinte, musste nicht erklärt werden.
Während wir uns auf die Suche nach einer Lücke im Blätterdach machten, kam mir in den Sinn, dass Geoffrey und Leo gemeinsam fast so gefährlich für uns waren wie Myst. Mehr noch vielleicht, weil sie wussten, dass wir sie töten konnten. Ich hatte Myst einen Schrecken eingejagt,
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