Winters Herz: Roman (German Edition)
Ben zu denken. Die Angst würde sich in Kehle, Brust und Gliedern festsetzen und sie einfach lähmen; ihr Verstand würde aufhören zu funktionieren. Sie dachte an Sally und machte ein finsteres Gesicht. Schon besser.
Sie hob den Kopf und sah zu dem Grat auf, wo der Schneehang in den blassen Himmel überging. Genau auf dieser Linie stand etwas Schwarzes. Cass dachte an die Hexensteine, aber dann bewegte es sich, verschwand hinter dem Hügelrücken: Jemand hatte sie beobachtet. Ihr Puls beschleunigte sich. Sie war also nicht übergeschnappt. Ben war hier, das konnte sie fühlen . Sie blickte zu Pete hinüber, um zu sehen, ob er die Gestalt ebenfalls gesehen hatte, aber er war in Gedanken ganz woanders, das zeigten seine zusammengekniffenen Lippen und sein unkonzentrierter Blick. Wahrscheinlich dachte er über seine verrückte Frau nach. Und an seinen verschwundenen Sohn.
Die Kinder erwarteten sie bei den Hexensteinen, die Jungen aus Bens Schule, alle zu Boden starrend, ohne zu blinzeln. Damon stand in ihrer Mitte.
Eine Gestalt trat vor: Remick. Er lächelte, streckte in einer Willkommensgeste die Hände aus.
Cass bewegte sich nicht. »Wo ist Ben?«, fragte sie.
»Alles zu seiner Zeit. Kommt bitte.« Remick breitete die Arme aus, ganz der herzliche Gastgeber, und schloss auch Pete und ihren Vater ein. »Pete, nicht wahr? Ich habe mich schon darauf gefreut, Sie kennenzulernen.« Er streckte dem anderen die Hand hin. »Nein? Macht nichts, Sie werden bald anders denken. Ich bin wirklich ein liebenswerter Typ. Sie werden lernen, mich zu lieben.« Seine Augen blitzten humorvoll.
»Sie!«, sagte Pete.
»Ich, in der Tat. Kommen Sie.«
»Sie sind’s.« Pete stand wie vom Donner gerührt da. In seinem Blick lag nichts als Verwirrung.
Remick zog eine Augenbraue hoch. »Das steht außer Zweifel, denke ich.«
»Sie waren doch mit uns im Bunker – Sie haben gesagt, wir sollen die Stellung halten, und dann brach plötzlich die Hölle los.« Petes Blick war in die Ferne gerichtet.
»Was für eine verrückte Idee. Nun, wenn Sie meinen. Kommen Sie jetzt? Oder haben Sie vergessen, dass hier schon ein Gast wartet?«
Pete schüttelte den Kopf, rieb sich mit einem Arm über die Augen. »Wo ist mein Junge? Was zum Teufel gibt Ihnen das Recht …« Sein Blick streifte Cass.
»Natürlich Ihre liebe Frau. Sie hat mir ihren Sohn ohne Zögern anvertraut. Es hat Spaß gemacht, ein Auge auf Ihre Familie zu haben, während Sie fort waren.«
Pete trat langsam auf Remick zu, kniff die Augen zusammen.
Cass’ Vater packte zu, hielt ihn am Arm fest.
Remick lächelte. »Cass?«, sagte er und streckte die Rechte aus. Seine Handfläche war glatt, unversehrt. Cass betrachtete ihre eigene, über die sich eine rote Narbe zog. Er winkte sie zu sich heran.
»Sie heißt Gloria«, sagte ihr Vater. Er trat vor sie.
»In der Tat«, sagte Remick. »Ist das der Name, den sie für sichselbst gewählt hat, glauben Sie? Egal, das tut nichts zur Sache. Folgen Sie mir bitte. Alle warten schon. Jetzt können wir anfangen.«
Cass hastete an ihm vorbei zu den Hexensteinen, bei denen die Kinder standen. Alle starrten ihr entgegen, aber sie achtete nicht auf sie. Was aus ihnen wurde, war ihr egal; ihr war nur ihr Sohn wichtig. Sie wollte ihn in die Arme schließen und an einen möglichst weit entfernten Ort mitnehmen, an dem sie niemals wieder in Remicks Augen würde blicken müssen. Sie sah Sally – und neben ihr Ben, der ihre Hand hielt.
»Ben!«, rief Cass und stürmte zu ihm …
Sie starrte ungläubig in die weit aufgerissenen Augen eines kleinen Mädchens. Was sie für Bens blondes Haar gehalten hatte, war nur der mit hellem Pelz besetzte Rand einer Kapuze, die Jessica tief ins Gesicht gezogen war. Darunter sahen einzelne dunkelbraune Haarsträhnen hervor.
Cass war über sich selbst bestürzt. Die Kleine hatte sie ganz vergessen … Natürlich musste sie Ben finden, aber wie hatte sie das Kind ihrer Freundin vergessen können? Die Miene der Kleinen war angstvoll. Cass sah über die Schneefläche und fragte sich, ob Lucys blicklose Augen in dieser Sekunde ihre Tochter beobachteten. Die weißen Erhebungen waren noch da, aber sie waren wieder getarnt worden, sodass frischer Schnee sämtliche Höhlungen ausfüllte, das Haar bedeckte und die Anzeichen und den Geruch einsetzender Verwesung verbarg.
»Du solltest dich hüten, sie allzu lieb zu gewinnen«, rief Remick.
Sie ignorierte ihn. Zwischen den Hexensteinen hinter Jess tauchte
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