Winters Herz: Roman (German Edition)
würde.«
Lucy beobachtete sie aus dem Augenwinkel heraus. »Sorry«, sagte sie. »Ich dachte, Sie wüssten Bescheid – ich meine, vielleicht hat es ja nichts zu bedeuten …«
»Was denn?«
»Na ja, der Baufirma soll das Geld ausgegangen sein. Die Arbeiten sind vor ein paar Wochen eingestellt worden. Trotzdem findet sich vielleicht bald ein anderer Investor. Haben Sie …?« Sie brachte den Satz nicht zu Ende.
Cass schüttelte den Kopf. Sie spürte, wie eine Woge der Erleichterung sie durchflutete. »Nein«, sagte sie, »nein, ich bin keine Eigentümerin, Gott sei Dank. Hätte ich die Wohnung vorher besichtigen können, hätte ich sie vielleicht gekauft, aber so wohnen wir nur zur Miete.«
»Das ist gut. Da kann Ihnen nichts passieren. Und vielleicht ziehen bald mehr Leute ein. Wie man hört, versucht der Makler noch immer, die fertigen Wohnungen zu vermieten.«
Cass hörte kaum, was sie sagte. Sie dachte an all die Türen, still und geschlossen, und an Bens verkniffenes Gesicht, während er am Fenster Ausschau nach Spielgefährten hielt, die vielleicht niemals kommen würden. Und dann dachte sie an das nicht verglaste Apartment, das Wind und Wetter ausgesetzt war. Dort würde sicher nicht so bald weitergebaut werden.
»Sie kommen bestimmt zurecht.« Lucy wirkte besorgt. »Hören Sie, wenn Sie mal das Bedürfnis nach einer Freundin oder einem Schwätzchen haben oder sonst was brauchen … Hier, ich gebe Ihnen meine Telefonnummer.« Sie nahm einen Zettel aus der Ablage und kritzelte ihre Nummer darauf.
Cass bedankte sich, stieg aus und winkte ihnen zum Abschied zu, während Ben stumm neben ihr stand. Sie blieben noch einen Augenblick in der Kälte stehen. »Hast du mit Jessica geredet?«, fragte Cass schließlich.
»Sie ist ein Mädchen.«
Cass unterdrückte ein Lächeln. »Ja, das stimmt. Aber hast du mit ihr geredet?«
Ben schüttelte den Kopf.
»Ist sie in deiner Klasse?«
Keine Antwort.
»Mit wem hast du geredet?«
Ihr Sohn sah auf. »Damon.«
Ausgerechnet Damon, der Sohn der lautesten Frau in Darnshaw.
»Und du hast bei Mrs. Spencer gezeichnet. Hat dir das gefallen?«
Ben warf ihr einen Blick zu und verzog das Gesicht. Seine Lippen waren zusammengepresst.
Cass seufzte. Sie würde versuchen müssen, ihn ein bisschen aufzuheitern. Vielleicht konnten sie gemeinsam etwas Spaß haben, vielleicht einen Schneemann bauen. Aber dann sah sie sich um und merkte, dass der Abend bereits nahte. Der Himmel war bleiern dunkelgrau, und während sie noch dastanden, begann es wieder zu schneien. Dicke weiße Flocken füllten den Himmel, schwebten sanft und lautlos herab.
Cass setzte sich ruckartig auf und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Irgendetwas hatte sie geweckt – Ben. Sie sprang aus dem Bett und lief durch das Apartment in sein Zimmer. Als sie das Bett ihres Sohns erreichte, gab er jedoch keinen Laut mehr von sich. Sie kniete bei ihm nieder, streckte eine Hand aus. Ben fühlte sich heiß an und hatte sich in die Decke verwickelt. Seine Wangen waren feucht, aber nicht von Schweiß, sondern weil er geweint hatte. Er verzog unwillig das Gesicht, wich etwas Unverständliches murmelnd vor ihr zurück. Sein Blick war leer.
Wieder einmal sagte er: »Er bleibt mein Daddy.«
»Ruhig, Ben. Natürlich bleibt er das.«
»Er ist’s. Er ist mein Daddy.«
Cass hielt ihn umarmt und versuchte, nicht an Pete zu denken. Wenn Ben früher geweint hatte, hatte Pete ihn im Kreis geschwungen und sich über seine Tränen lustig gemacht – aber niemals mit verletzenden Worten. Nein, er hatte es verstanden, den Jungen wieder zum Lachen zu bringen.
Ben wurde unruhig in ihrer Umarmung, und Cass ließ ihn los. Ihr Sohn war jetzt hellwach, starrte sie mit großen Augen an. »Wenn ich einen anderen Dad bekäme, bliebe er trotzdem mein Daddy, nicht wahr?«
»Was?«
»Daddy. Wenn jemand anderes mein Dad sein wollte, würde er mich trotzdem weiter lieben, stimmt’s?«
»Natürlich würde er das.« Cass zog ihren Sohn verwirrt an sich. Wie kam er nur auf solche Ideen? Sie dachte an Sallys Worte auf dem Schulflur, an ihr törichtes Lachen. Was hatte die Frau gesagt? Sie haben wirklich Glück . Irgendwas in dieser Art. Das musste Ben gehört haben.
Cass hielt Ben mit ausgestreckten Armen fest und sah ihm in die Augen. Sie wählte ihre Worte sorgfältig. »Natürlich bleibt er dein Dad«, sagte sie. »Für immer.«
»Wo ist er dann?«
Ihr Herz sank.
»Wo ist er?«
Cass atmete tief durch. »Dein Daddy
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