Winters Herz: Roman (German Edition)
und versammelte die Kinder mit einer knappen Geste um sich. Ihr Geplapper verstummte, als er zu sprechen begann. »Weil ihr es geschafft habt, heute Morgen herzukommen, während alle anderen zu Hause geblieben sind, schlage ich vor, dass wir mit einer vorgezogenen Pause anfangen. Wie wär’s mit einem Wettbewerb im Schneemannbauen?«
Lauter Jubel von allen Seiten. Ben bekam leuchtende Augen; er lachte ebenfalls und ließ dabei kleine weiße Zähne blitzen. Er entzog Cass seine Hand, als merke er erst jetzt, dass sie in ihrer lag. Cass lächelte ihm zu. Mr. Remick beobachtete sie beide. »Ich hoffe, Sie sind damit einverstanden«, sagte er. »Ernsthaften Unterricht gibt es natürlich auch noch.«
»Das ist perfekt«, sagte Cass. »So kann er sich wunderbar eingewöhnen.« Vielleicht würde der Schnee sich doch noch als Segen erweisen. Ihr Blick glitt über die Hügel hinweg, die sie umgaben und deren jungfräuliches Weiß nur an einigen wenigen Stellen durch eine Steinmauer oder einen kahlen Baum unterbrochen wurde.
Mr. Remick sprach leiser. Seine Stimme war sanft, fast tonlos. »Sie können bleiben, wenn Sie möchten.«
Cass sah ihn an, und der Blick seiner klaren blauen Augen ging ihr durch und durch. Ihr stockte der Atem.
»Sie könnten mithelfen, Schneemänner zu bauen, meine ich. Vielleicht macht Ihnen das Spaß. Sie könnten unser Ehrengast sein.« Mr. Remick lächelte.
Cass senkte den Kopf und merkte, dass Ben sie anstarrte. Sie wandte sich wieder an Mr. Remick. »Danke, lieber nicht«, sagte sie. »Ich will dich schließlich nicht vor aller Welt blamieren, was, Ben?«
»Mom baut total miese Schneemänner«, sagte Ben.
Cass wechselte einen Blick mit Mr. Remick, dann lachten sie beide.
»Tja, das wollen wir natürlich nicht. Vielleicht ein andermal.« Der Lehrer streckte die Hand aus, um Bens Rucksack von Cass’ Schulter zu nehmen. Die leichte Berührung war kaum zu spürenund dauerte nicht lang, aber sein Blick ließ sie die ganze Zeit nicht los.
Cass brach den Blickkontakt ab. Um ihre Verwirrung zu überspielen, beugte sie sich zu Ben hinunter und gab vor, seine Jacke zurechtzuziehen. Als sie sich wieder aufrichtete, zwang sie sich zu einem neutralen Gesichtsausdruck.
Draußen auf der Straße drehte Cass sich noch mal zum Pausenhof der Schule um. Dort liefen ungefähr zwanzig Kinder aller Altersstufen lachend und kreischend durcheinander. Schon ganz in ihre Arbeit vertieft, rollten sie große Kugeln aus Schnee, unter dem an einigen Stellen grünes Gras zum Vorschein kam. Cass erkannte Ben an seiner auffälligen roten Jacke. Einer der Jungen winkte ihn zu sich heran, und Ben lief hin, um mitzuhelfen, eine der Kugeln auf eine andere zu heben, damit der erste Schneemann einen Kopf bekam.
Eine vertraute Stimme hallte über den Platz. Selbst aus der Entfernung war Sally Spencers durchdringendes Organ unüberhörbar. Die Frau stapfte umher und feuerte die Kinder an, schneller zu bauen; dann wandte sie sich der Straße zu und legte schützend eine Hand über die Augen. Unwillkürlich trat Cass zwei Schritte zur Seite, um hinter einer hohen Torsäule zu verschwinden.
»Tach auch«, sagte eine Stimme.
Cass drehte sich um und sah Bert, eng in seinen Mantel gehüllt, mit Captain, der hinter ihm hertrottete. Dem stark hechelnden Hund hing die rote Zunge aus der Schnauze.
»Hallo, Bert. Nehmen Sie sich in Acht. Captain könnte zum Schneemannbauen abgestellt werden.«
Bert sah auf den Hund hinab, der ebenfalls haltgemacht hatte. »Aye«, sagte er und hob wieder den Kopf, um die Kinder zu beobachten. »Schon alles eingelagert?«
»Wie bitte?«
»Aye. Haben Sie Vorräte im Haus?«
»Vorräte?«
Der Alte nickte. Sein Hund stand da und hechelte. »Sobald die erste Schneeflocke fällt, gibt’s in Darnshaw kein Brot mehr«, leierte er monoton herunter. »Und Milch. Und alles andere, was man sonst so braucht.« Seine Schultern zuckten, als lache er innerlich. Er deutete die Straße entlang. »Glaub nich’, dass in nächster Zeit Lieferungen durchkomm’n. Am besten geh’n Sie gleich in den Laden, wenn Sie sich nich’ eingedeckt hab’n.«
»Oh«, sagte Cass. »Vielen Dank.« Warum hatte sie nicht dran gedacht, dass es wegen des Schnees Versorgungsengpässe geben könnte? Wo sie früher gewohnt hatte, war das Verkehrswegenetz besser gewesen, doch hier …
»Aber die Straßen werden sicher bald geräumt? Oder gestreut, damit wenigstens die Geschäfte versorgt werden können?«
Er seufzte schwer. »Das
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