Winters Herz: Roman (German Edition)
überraschende Entdeckung, und sie tue gut daran, rasch zuzusagen, bevor jemand sie ihr wegschnappte. Als hätte es einen regelrechten Ansturm auf die Wohnungen in der Mühle gegeben.
Cass erinnerte sich an die Kratzgeräusche, die sie nachts gehört hatte, und spürte einen leichten Schauder. Sie verdrängte diese Erinnerung, schloss die eigene Tür auf, fuhr ihren Computer hoch und ignorierte das Gefühl der Leere hinter sich.
Ihr Kunde hatte eine weitere E-Mail geschickt – mehr Arbeit, als Cass erwartet hatte, aber das war gut, weil sie ihm die berechnen konnte. Sie machte sich daran, die gewünschten Änderungen an der Website vorzunehmen, verschob Bilder, änderte Layouts und hakte in Gedanken ab, was erledigt war, während sie sich in ihre Arbeit vertiefte. Zuletzt lud sie die Dateien hoch und schickte dem Kunden eine E-Mail: »Alles erledigt. Hoffentlich gefällt es Ihnen. Lassen Sie mich wissen, was ich sonst noch für Sie tun kann.«
Sie lehnte sich zurück und rieb sich die Augen, danach stand sie auf, um ihre steifen Glieder zu recken, und drehte sich um.
Die Welt draußen war weiß.
Cass stieß vor Überraschung einen leisen Schrei aus und trat ans Fenster.
Der Parkplatz war mit einer zwei bis drei Zentimeter hohen Schneeschicht bedeckt. Die steilen Hügel waren ebenso weiß wie der Himmel; die Flocken, von denen die Luft erfüllt war, waren dick und segelten träge herab, setzten sich überall fest. Schnee bedeckte die Bäume, ließ Äste und Zweige dicker erscheinen. Der einzige Farbklecks war der gelbe Bagger zwischen den Kieshaufen. Die Welt war einfarbig geworden.
Sie dachte an Ben und murmelte einen Fluch. Wenigstens hatte er seine wärmste Jacke dabei, die rote.
Aber die Straße. Cass stellte sich den Schulweg vor: Die Hauptstraße führte geradewegs durchs Tal, verlief im Dorf mehr oder weniger eben. Aber die zur Mühle hinunterführende kleinere Straße konnte bei Eis und Schnee heimtückisch sein. Sie atmete tief durch. Daran hatte sie nie gedacht; sie war gar nicht auf den Gedanken gekommen, die Zufahrt zur Mühle zu begutachten. Trotzdem spielte das eigentlich keine Rolle – sie selbst konnte überall arbeiten. Und wenn der Straßenzustand allzu schlecht wurde, konnte sie Ben zu Fuß in die Schule bringen.
Cass sah aus dem Fenster. Obwohl er vielleicht Probleme brachte, war der Schnee schön. Er rief eine Erinnerung wach, die in ihrer Lebhaftigkeit überraschend war. Cass und ihr Vater und ihre Mutter, die gemeinsam durch Schnee gingen, als so etwas noch möglich gewesen war. Unter ihrem Mantel trug Cass ein mit Rüschen besetztes weißes Kleid, und sie drehte darin Pirouetten, teils weil der Schnee um ihr Haar wirbelte, teils weil sie wusste, dass die anderen Kinder neidisch sein würden. Sie riss den Mund auf und schmeckte Schneeflocken auf ihrer Zunge.
Dann blickte sie auf und sah die Kirche. Ihr Vater drehte sich um und …
Cass runzelte die Stirn. Sie wollte sich nicht daran erinnern, wie es weitergegangen war, nachdem die Dinge ernst und streng und freudlos geworden waren … nur an den Spaß, den sie zusammen gehabt hatten, wollte sie denken, daran, wie sie als Familie gemeinsam gelacht hatten, bevor Cass in die Kirche gegangen war.
Natürlich hatte sie damals nicht Cass geheißen.
Kapitel 5
Frisch gefallener Schnee erstreckte sich vor der karmesinroten Eingangstür der Mühle. Er war jungfräulich, wies keine Fußabdrücke auf. In den letzten Stunden konnte niemand die Mühle betreten oder verlassen haben, und Cass musste wieder an ihren geheimnisvollen Nachbarn in Apartment 10 denken.
Ihr Auto war das einzige in der Nähe des Eingangs geparkte Fahrzeug. Cass wischte Schnee von den Scheinwerfern, dann von den Spiegeln und Scheiben. Der Schnee machte ihre Ärmel dunkel und ließ ihre rot gewordenen Hände vor Kälte kribbeln. Die Kälte spürte sie auch im Gesicht, als sie hinters Lenkrad glitt und den Zündschlüssel drehte.
Der Motor gab ein Röcheln von sich, das wie das Keuchen eines uralten Kettenrauchers klang.
Cass fluchte, pumpte mehrmals mit dem Gaspedal und versuchte es erneut. Wieder das Röcheln, aber diesmal sprang der Motor an. Als Erstes ließ sie eine Zeit lang die Heizung laufen, hielt ihre Finger an die Lüftungsschlitze. Sie nahm sich vor, nächstes Mal Handschuhe zu tragen.
Sie legte den Rückwärtsgang ein. Der Wagen zitterte, und die Räder drehten durch. Als Cass etwas weniger Gas gab, setzte er sich in Bewegung, holperte über den
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