Winters Knochen
Großmutters Mantel ab und warf ihn auf den Kleiderhaufen. Sie ging vornübergebeugt zur Quelle und ließ sich völlig darin versinken. Unter Wasser hielt sie die Luft an, öffnete ihr Auge und erkannte in leichtem Nebel die Steine, die die Zeit blank poliert hatte, hörte das Murmeln der Quelle, das Murmeln und Sprudeln des Wassers, das für immer an ihr vorbeieilte. Als sie wieder auftauchte, spürte sie um den Kopf herum die Kälte. Sie sprang aus dem Wasser und eilte zum Feuer.
»Du bewegst dich jetzt schon besser«, meinte Gail.
»Ich hab vergessen, wo es wehtut.«
»Wir sollten uns besser anziehen.«
»Liebst du ihn denn wirklich?«
»Weiß nicht. Mein Herz stößt keine Fanfaren aus, wenn ich seinen Namen höre. Nichts dergleichen. Aber ich liebe Ned. Und das so richtig.«
Nachdem sie sich angezogen hatte, nahm Ree ihren Besenstiel, aber sie brauchte ihn kaum noch. Sie humpelte zum Pick-up, setzte sich auf die Sitzbank und schluckte eine gelbe und eine blaue Tablette. Gail fuhr schweigend den Hügel hoch und aus dem Tal hinaus. Geier hatten sich versammelt, um an etwas Flauschigem zu hacken, das vor ihnen auf dem Schotter lag, flatterten aber ungelenk davon, als der Pick-up näher kam.
»Hat’s dir nicht gefallen?« fragte Ree. »Willst du mir sagen, dass es dir nicht gefallen hat?«
»Doch, hat es mir. Es hat mir gefallen, aber nicht genug.«
Die graue Wetterfront aus Nordwesten hatte sich über einen Großteil des Himmels gelegt. Schnaubender Wind ließ die Bäume wanken, und zum Rauschen des Windes gesellte sich das Klappern der aneinanderschlagenden Äste. Ein ächzender Holztransporter zwang Gail an der Stelle zu warten, wo der Schotterweg auf die asphaltierte Straße stieß. An den Stammenden hingen rote Wimpel. Stinkender Qualm quoll aus dem Auspuff.
»Glaubst du, Floyd und sein Daddy würden mir unser Holz abkaufen?« fragte Ree. »Wenn wir verkaufen müssen, dann schon an deine Leute.«
»Wirklich? Meinst du das ernst?«
Als sie an den Weg kamen, der zum Haus führte, zwang Ree sich, in die andere Richtung zu sehen. »Wenn ich den Wald verkaufen muss, Süße, dann möchte ich ihn an dich und deine Leute verkaufen.«
ZWEI SORTEN TABLETTEN und einen Nachmittag im Bett und einen Abend, bis in die Nacht. Der Himmel war dunkel, der Wind pfiff ums Haus und rüttelte an den Fenstern, doch Ree lag da und bekam nichts davon mit. Die Jungs kamen früh heim und sagten: »Noch mehr Schneetage!«, doch Ree brummte nur. Die gelben Tabletten leisteten ganze Arbeit. Es schien, als könnten sie den Schmerz gut beiseiteschieben, ohne den Verstand abzuschalten. Die blauen wiederum zogen einen in ein tiefes schwarzes Lock, wo die Zeit in großen Stücken abgerissen wurde, ohne dass man sie wirklich hatte durchleben müssen. Manchmal will man aber einen wachen Verstand haben. Alles Mögliche tanzt einem im Kopf herum, meist nicht jene Erinnerungen, die man mit ganz bestimmten Gedanken zurückzurufen versucht hat, doch meist holen selbst die ungewollt tänzelnden Gedanken Gefühle herbei, locken sie hervor oder lassen zumindest ein Gewirr davon zurück. Weiß legte sich auf das Fensterbrett, Schneeflocken stolzierten umher, wehten gegen die Glasscheiben, und Ree tastete mit der Hand auf dem Fußboden herum, schüttelte eine weitere blaue Tablette heraus, lehnte sich zurück und wartete auf das schwarze Loch.
DAS SCHWARZ TEILTE SICH gerade genug, dass eine Hand hindurchgreifen, sie ein paar Mal an der Schulter rütteln, sie in ihrem Flanellnachthemd und den Kniestrümpfen aus dem Bett holen und Großmutters Mantel um sie legen konnte. Der Traum schnürte ihr aber nicht die Stiefel zu, sondern verwandelte sich in eine Fahrt im Pick-up, eine Fahrt durch einen weißen Tunnel in der Nacht, weiße Flocken fielen auf die Windschutzscheibe und sammelten sich unter den Wischblättern. Selbst durch den Schleier des Schlafs konnte Ree Onkel Teardrop riechen. Sein Geruch und seine Geräusche waren da, direkt neben ihr, aber ihre Gedanken waren derart langsam, dass sie sich nicht sicher war, ob sie tatsächlich wach war, bis er ihr Bein berührte und mit dem Fingernagel über eine wunde Stelle kratzte. Sie spürte den Schmerz durch die Pillen hindurch, sah sein Gesicht, die Whiskeyflasche in seinem Schoß, das Fallschirmjägergewehr und die abgesägte Schrotflinte, die auf dem rissigen Sitz zwischen ihnen hin und her rutschten.
»Los, Mädchen«, sagte Onkel Teardrop. »Genug mit dieser scheiß Warterei. Lass uns ein
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