Winterträume
kein Ohr vorhanden sei, es zu hören. Er bildete sich schon ein, immer tiefer in den Pragmatismus abzugleiten. In Wahrheit aber bewegte er sich, ohne es zu ahnen, in atemberaubendem Tempo auf etwas völlig anderes zu.
Das Klopfen erklang – drei Sekunden verrannen – das Klopfen erklang.
»Herein«, murmelte Horace automatisch.
Er hörte, wie die Tür sich öffnete und wieder schloss, saß über sein Buch gebeugt in dem großen Sessel am Kamin und blickte nicht auf.
»Legen Sie’s nebenan aufs Bett«, sagte er zerstreut.
»Was soll ich nebenan aufs Bett legen?«
Bei ihren Songs musste Marcia Meadow mehr reden als singen, ihre Sprechstimme aber war wie eine Begleitmusik aus Harfenklängen.
»Die Wäsche.«
»Kann ich nich.«
Horace zuckte ungeduldig in seinem Sessel.
»Wieso können Sie nicht?«
»Na weil, ich habse nich.«
»Hm!«, erwiderte er unwirsch. »Ja dann werden Sie vermutlich noch einmal zurückgehen müssen und sie holen.«
Vor dem Kamin stand noch ein zweiter Lehnstuhl. Horace hatte die Angewohnheit, sich während des Abends mal in den einen, mal in den anderen zu setzen, teils um sich etwas Bewegung zu verschaffen, teils auch einfach der Abwechslung halber. Den einen nannte er Berkeley, den anderen Hume. Auf einmal hörte er, wie eine raschelnde, schimmernde Gestalt auf Hume sich niederließ. Er blickte auf.
»So«, sagte Marcia mit diesem süßen Lächeln aus dem zweiten Akt (»Oh, dann hat mein Tanz dem Duc also gefallen!«), »so, Omar Chaijam, da bin ich nu und sitze vis-à-vis von Sie und singe in der Wildnis.«
Horace starrte sie verdutzt an. Sekundenschnell durchfuhr ihn der Verdacht, dass sie nur als Phantom existiere, als Ausgeburt seiner Phantasie. Schließlich kamen doch Frauen nicht einfach in die Zimmer von Männern und ließen sich auf einem männlichen Hume nieder. Frauen brachten die Wäsche und nahmen einem den Sitzplatz in der Straßenbahn weg, und später, wenn man alt genug war, um zu lernen, was Fesseln sind, dann heirateten sie einen.
Diese Frau hier hatte sich eindeutig aus Hume heraus vergegenständlicht. Selbst der braune Firlefanz, den sie an ihrem gardinendünnen braunen Kleid hatte, war eine Emanation von Humes ledernem Arm da drüben! Er musste nur lange genug hinschauen, schon würde er durch sie hindurch geradewegs seinen Hume erblicken und wäre wieder allein in seinem Zimmer. Er fuhr sich mit der Faust über die Augen. Es wurde wirklich Zeit, dass er seine Übungen am Trapez wieder aufnahm.
»Großer Gott, nu kucken Sie mich doch nich so tadelnd an!«, bemerkte die Emanation freundlich. »Ich hab ja schon bald das Gefühl, Sie wolln mich wegzaubern, Sie Superschlaukopf, Sie. Und dann wär nix mehr von mir übrig wie bloß in Ihre Augen noch mein Schatten.«
Horace hustete. Husten war die eine der insgesamt zwei körperlichen Ausdrucksmöglichkeiten, die ihm zu Gebote standen. Wenn er sprach, vergaß man geradezu, dass er überhaupt einen Körper hatte. Es war, als hörte man sich eine Grammophonaufnahme eines längst verstorbenen Sängers an.
»Was wollen Sie?«, fragte er.
»Ich will die Briefe«, jammerte Marcia melodramatisch, »die Briefe, wo Sie 1881 von mein Großvater gekauft ham.«
Horace überlegte.
»Ich habe Ihre Briefe nicht«, sagte er dann in ruhigem Ton. »Ich bin erst siebzehn Jahre alt. Mein Vater wurde erst am 3. März 1879 geboren. Sie scheinen mich mit jemand zu verwechseln.«
»Sie sind erst siebzehn?«, wiederholte Marcia misstrauisch.
»Erst siebzehn.«
»Ich kannte mal eine«, sagte Marcia versonnen, »die war erst sechzehn und war schon bei so ’m Tingeltangeltheater. Na, die war vielleicht verliebt in sich selber, die musste immer, wenn sie ›sechzehn‹ sagen wollte, ’n ›erst‹ vorneweg sagen. Wir ham sie schließlich ›Erst-Jenny‹ genannt. Und die ist heute noch genau da, wo sie angefangen hat – bloß schlimmer. ›Erst‹ ist ’ne schlechte Angewohnheit, Omar – klingt irgendwie nach Alibi.«
»Ich heiße nicht Omar.«
»Weiß ich doch«, gab Marcia ihm kopfnickend recht. »Sie heißen Horace. Ich sag ja auch bloß Omar zu Ihnen, weil Sie mich an ’ne gerauchte Zigarette erinnern.«
»Und Ihre Briefe, die habe ich nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich Ihrem Großvater jemals begegnet sein soll. Ich halte es, offen gestanden, für sehr unwahrscheinlich, dass Sie 1881 bereits gelebt haben.«
Marcia starrte ihn verwundert an.
»Ich – 1881? Na, und ob! Ich bin schon in der zweiten Reihe
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