Winterträume
Fahrstuhl hatte er sie eingeholt, sie standen da und schauten einander in die Augen.
»Na, hören Sie mal«, wiederholte er, »Sie sind mein Gast. Hab ich vielleicht irgendwas gesagt, was Sie gekränkt hat?«
Es gab einen kurzen Moment des Erstaunens – dann wurden Marcias Augen wieder weicher.
»Na, Sie sind mir ja vielleicht ’n ungehobelter Kerl«, sagte sie gedehnt. »Das ist Ihnen wohl ganich klar, was Sie für ’n ungehobelter Kerl sind, wie?«
»Da kann ich doch nichts dafür«, sagte Horace mit einer Direktheit, die sie ziemlich entwaffnend fand. »Sie wissen doch, dass ich Sie mag und dass Sie mir gefallen.«
»Aber Sie haben gesagt, es gefällt Ihnen nich, wenn Sie mit mir zusammen sind.«
»Es hat mir nicht gefallen.«
»Und wieso nich?«
Da loderten in seinen Augen, die wie graue Wälder waren, auf einmal Feuersbrünste auf.
»Weil es mir nicht gefallen hat. Ich hab mir das jetzt mal so angewöhnt, dass ich Sie mag. Zwei Tage hab ich an nichts anderes denken können.«
»Na ja, wenn Sie –«
»Moment mal«, fiel er ihr ins Wort. »Ich muss was sagen. Folgendes: In sechs Wochen bin ich achtzehn. Und wenn ich achtzehn bin, dann komme ich Sie in New York besuchen. Gibt’s in New York irgendwas, wo wir hingehen können und wo nicht so viele Leute mit im Raum sind?«
»Klar!«, lächelte Marcia. »Sie könn’ ja gerne mit in mein Apartment komm’. Sie könn’ ja aufm Sofa schlafen, wenn Sie wollen.«
»Auf Sofas kann ich nicht schlafen«, sagte er kurz. »Aber ich will ja auch mit Ihnen reden.«
»Ach so, klar«, wiederholte Marcia – »in meim Apartment.«
Vor lauter Aufregung steckte Horace die Hände in die Taschen.
»Gut, gut – Hauptsache, wir sind alleine. Ich will so mit Ihnen reden, wie wir oben bei mir in meinem Zimmer geredet haben.«
»Du, sag mal, Zuckerjunge«, rief Marcia lachend, »heißt das vielleicht, du willst mich küssen?«
»Ja«, stieß Horace fast aufgebracht hervor. »Wenn Sie es wollen, werde ich Sie küssen.«
Der Fahrstuhlführer sah die zwei vorwurfsvoll an. Mit einem Satz war Marcia an der Gittertür.
»Ich schreib dir ’ne Postkarte«, sagte sie.
Horace’ Blick war ziemlich wild.
»Schreiben Sie mir eine Karte! Nach dem ersten Januar kann ich Sie jederzeit besuchen kommen. Dann bin ich achtzehn.«
Und als sie in den Fahrstuhl stieg, hustete er kryptisch, aber mit vager Entschiedenheit, zur Decke hoch und ging dann rasch davon.
III
Er war wieder da. Gleich beim ersten Blick ins rastlose Publikum von Manhattan hatte sie ihn entdeckt – dort unten in der ersten Reihe, den Kopf leicht vorgereckt, die grauen Augen starr auf sie gerichtet. Da hatte sie gewusst, für ihn gab’s auf der Welt nur sie und ihn; er nahm die Chorus Girls mit ihren überschminkten Frätzchen und das vereinte Gewinsel der Violinen so wenig wahr, wie man auf einer Marmorvenus Puder registrieren würde. Und instinktiv regte sich Trotz in ihr.
›Dummer Junge!‹, dachte sie bei sich und ging nicht noch einmal auf die Bühne zurück, um ihren Schlussapplaus entgegenzunehmen.
»Was erwarten die denn für ’n Hunderter die Woche – dass ich ’n Perpetuum mobile bin?«, grummelte sie in den Kulissen vor sich hin.
»Na, Marcia, wo drückt denn der Schuh?«
»In der ersten Reihe, da sitzt einer, den kann ich nich leiden.«
Beim letzten Akt, während sie auf ihren Soloauftritt wartete, überfiel sie plötzlich ein ganz ungewohntes Lampenfieber. Sie hatte Horace nie die versprochene Postkarte geschickt. Gestern Abend hatte sie so getan, als hätte sie ihn nicht gesehen – war gleich nach ihrer Tanznummer aus dem Theater gerannt und hatte in ihrem Apartment eine schlaflose Nacht verbracht und wieder, wie so oft in den vergangenen Monaten, an sein bleiches, ganz schön entschlossenes Gesicht gedacht, seine schlaksige, knabenhafte Figur, die gnadenlose, weltfremde Losgelöstheit von den Dingen, die sie so bezaubernd fand.
Und jetzt, wo er erneut gekommen war, verspürte sie ein vages Bedauern – als wäre ihr eine Verantwortung aufgezwungen worden, an die sie nicht gewöhnt war.
»Wunderkind!«, sagte sie laut.
»Was?«, fragte der schwarze Komödiant, der neben ihr stand.
»Ach, nüscht – ich führ bloß Selbstgespräche.«
Auf der Bühne ging es ihr besser. Das war ihr Tanz – aber sie hatte immer das Gefühl, dass sie dabei inzwischen gerade noch so viel Zauber entfaltete, wie ihn jedes hübsche Mädchen ohnehin für jeden Mann besitzt. Diesmal wollte sie ein
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