Winterträume
komisch! Wenn es nicht so schrecklich wäre, wäre es einfach absurd. Hör mir jetzt zu!« Ihre Stimme wurde schärfer, beherrschter – und enthielt nun eine Spur Verachtung. »Du verbringst dein halbes Leben damit, Leuten unter die Arme zu greifen, die sich einen feuchten Kehricht darum scheren, wie es dir geht oder was aus dir wird. Du überlässt deinen Sitzplatz in der Straßenbahn Schweinen und kommst so müde nach Hause, dass du dich nicht mehr rühren kannst. Du sitzt in allen möglichen Ausschüssen, was dich jeden Tag mindestens eine Stunde kostet, ohne dass du einen Cent dafür bekommst. Du lässt dich von allen und jedem ausnutzen ! Ich mache das nicht mehr mit! Ich dachte, ich hätte einen Mann geheiratet – und nicht einen hauptberuflichen Samariter, der sich für die ganze Welt aufopfern will!«
Nach dieser Schimpftirade begann Jacqueline mit einem Mal zu schwanken, und sie musste sich setzen, so angegriffen waren ihre Nerven.
»Und das gerade jetzt«, sagte sie mit unterdrücktem Schluchzen, »wo ich dich brauche. Ich brauche deine Kraft und deine Gesundheit und deine Arme, die mich halten. Aber wenn du – wenn du dich an jeden verschwendest, dann bleibt fast nichts mehr für mich übrig –«
Er kniete sich neben sie und legte ihren müden jungen Kopf sanft an seine Schulter.
»Es tut mir leid, Jacqueline«, sagte er demütig. »Ich werde mir mehr Mühe geben. Mir war nicht klar, was ich dir antue.«
»Du bist der liebste Mensch auf der Welt«, flüsterte Jacqueline heiser, »aber ich will dich und das Beste an dir für mich haben.«
Er strich ihr immer wieder über die Haare. Ein paar Minuten lang verharrten sie schweigend in diesem Nirwana des Friedens und des Verständnisses, das sie erreicht hatten. Dann hob Jacqueline widerstrebend den Kopf, als Miss Clancy in der Tür erschien und die Stille unterbrach.
»Oh, entschuldigen Sie die Störung.«
»Worum geht es?«
»Ein Junge ist mit Kartons gekommen. Lieferung per Nachnahme.«
Mather erhob sich und folgte Miss Clancy in ihr Büro.
»Es macht fünfzig Dollar.«
Er sah in seiner Brieftasche nach, doch er hatte am Morgen vergessen, Geld abzuheben.
»Warten Sie eine Sekunde«, sagte er geistesabwesend. Seine Gedanken waren mit Jacqueline beschäftigt, mit Jacqueline, die in ihrem Kummer so verlassen wirkte und in seinem Zimmer auf ihn wartete. Er ging in den Flur, öffnete die Tür der Maklerfirma Clayton & Drake gegenüber, schob ein niedriges Gitter auf und ging zu einem Mann an einem Schreibtisch.
»Morgen, Fred«, sagte Mather.
Drake, ein kleiner Mann von dreißig Jahren mit Kneifer und Kahlkopf, erhob sich und gab Jim die Hand.
»Morgen, Jim. Kann ich was für Sie tun?«
»Bei mir ist ein Bote mit einer Nachnahmesendung, und ich habe keinen Cent bei mir. Könnten Sie mir bis heute Nachmittag einen Fünfziger auslegen?«
Drake starrte Mather an. Langsam und erschreckend bewegte er dann seinen Kopf – nicht auf und ab, sondern hin und her.
»Tut mir leid, Jim«, antwortete er steif, »aber ich habe es mir zur Regel gemacht, unter keinen Umständen jemandem privat Geld zu leihen. Ich habe schon zu oft erlebt, wie Freundschaften auf diese Weise zerstört wurden.«
»Was?«
Mather war aus seiner Geistesabwesenheit aufgewacht, und die einsilbige Antwort drückte sein Entsetzen unumwunden aus. Doch sofort machte sich sein angeborenes Taktgefühl bemerkbar, das ihm automatisch die nächsten Worte diktierte, obwohl sein Gehirn wie betäubt war. Instinktiv wollte er Drake beruhigen.
»Oh, ich verstehe.« Er nickte, als teilte er die Ansicht des anderen, als hätte er schon oft mit dem Gedanken gespielt, diese Regel auch zu befolgen. »Oh, ich verstehe, was Sie meinen. Tja, ich – ich möchte natürlich um nichts in der Welt schuld daran sein, dass Sie Ihre Regel brechen. So eine Regel ist sicher eine gute Sache.«
Sie unterhielten sich noch ein wenig. Drake rechtfertigte seinen Standpunkt gewandt, und es war nicht zu übersehen, dass er in dieser Rolle eine Menge Übung hatte. Er schenkte Mather ein ausgesprochen offenes Lächeln.
Mather verabschiedete sich höflich, ging in sein Büro zurück und ließ Drake unter dem Eindruck zurück, er, Drake, sei der taktvollste Geschäftsmann der ganzen Stadt. Mather verstand es, in anderen solche Gefühle zu wecken. Als er jedoch sein Büro betrat und seine Frau sah, die trübsinnig aus dem Fenster in das Sonnenlicht starrte, ballte er die Fäuste, und sein Mund bewegte sich auf
Weitere Kostenlose Bücher