Winterträume
belästigt zu haben. Vielleicht würde sich etwas ergeben. Er habe nur gedacht, wenn Mr. Mather zufällig über größere Geldbeträge verfügte, nun ja, dann hätte er sich an ihn gewandt, weil er der Sohn eines alten Freundes war.
Als Mr. Lacy das Büro verließ, hatte er Schwierigkeiten, die Tür zum Flur zu öffnen. Miss Clancy half ihm. Abgerissen und kummervoll trat er auf den Flur hinaus und blinzelte mit seinen verblichenen Augen, während sein Mund noch immer leicht geöffnet war.
Jim Mather stand an seinem Schreibtisch und hielt sich die Hand vor das Gesicht; ihn schauderte plötzlich, als wäre ihm kalt. Doch die spätnachmittägliche Luft draußen war so heiß wie die einer tropischen Mittagsstunde.
IV
In der Abenddämmerung eine Stunde später war es noch heißer, als er draußen an der Ecke auf die Straßenbahn wartete. Die Heimfahrt würde fünfundzwanzig Minuten dauern, und er kaufte eine auf rosa Papier gedruckte Zeitung, um seinen ermatteten Geist zu beleben. In letzter Zeit erschien ihm das Leben weniger heiter, weniger herrlich als früher – vielleicht weil er die Dinge inzwischen nüchterner sah, vielleicht weil die Herrlichkeit sich mit den davoneilenden Jahren nach und nach verflüchtigte.
So etwas wie an diesem Nachmittag war ihm zum Beispiel noch nie widerfahren. Es gelang ihm nicht, den alten Mann aus seinen Gedanken zu verbannen. Er stellte ihn sich vor, wie er sich in der ermüdenden Hitze nach Hause schleppte, vermutlich zu Fuß, um Geld zu sparen; wie er die Tür der stickigen kleinen Wohnung öffnete und seiner Tochter gestand, dass der Sohn seines Freundes ihm nicht hatte helfen können. Den ganzen Abend würden sie sich vergeblich den Kopf zerbrechen, bis sie einander gute Nacht sagten – Vater und Tochter, durch Zufall völlig allein in dieser Welt – und in erbärmlicher Einsamkeit wach in ihren Betten liegen würden.
Mathers Straßenbahn kam, und er fand einen Sitzplatz vorne im Wagen neben einer alten Dame, die ihn vorwurfsvoll ansah, als sie zur Seite rutschte. An der nächsten Haltestelle füllte ein Schwarm Mädchen aus dem Ladenviertel den Gang, und Mather entfaltete seine Zeitung. In letzter Zeit hatte er darauf verzichtet, anderen seinen Platz anzubieten. Jacqueline hatte recht; normale junge Mädchen konnten genauso gut stehen wie er. Seinen Sitz anzubieten war albern, eine bloße Geste. Unter zwölf Frauen fand sich heutzutage nicht eine, die auf die Idee gekommen wäre, ihm dafür zu danken.
Im Wagen war es erstickend heiß, und Mather wischte sich den Schweiß von der Stirn. Im Gang drängten sich die Fahrgäste, und eine Frau, die neben seinem Sitz stand, wurde gegen seine Schulter gedrückt, als der Wagen um die Ecke fuhr. Mather nahm einen tiefen Atemzug der heißen, übelriechenden Luft, die wie eine Wolke in dem Wagen hing, und versuchte sich auf einen Cartoon oben auf der Sportseite zu konzentrieren.
»Bitte weitergehen!« Heiser und gereizt durchdrang die Stimme des Schaffners die dichtgedrängte Menge. »Genug Platz für alle!«
Die Menge unternahm den kläglichen Versuch, sich vorwärtszuschieben, was zum Scheitern verurteilt war, weil es keinen freien Raum gab. Der Wagen bog erneut um eine Ecke, und wieder wurde die Frau neben Mather an seine Schulter gedrückt. Normalerweise hätte er seinen Sitzplatz aufgegeben, allein schon, um nicht dauernd an ihre Gegenwart erinnert zu werden. Er kam sich unerfreulich kaltblütig vor. Und in der Straßenbahn war es abscheulich, einfach abscheulich. An so schwülen Tagen sollten mehr Wagen eingesetzt werden.
Zum fünften Mal sah er sich die Bilder des Comicstrips an. Auf dem zweiten Bild war ein Bettler zu sehen, und Mr. Lacys zitternde Gestalt nahm beharrlich die Stelle des Bettlers ein. Großer Gott! Angenommen, der alte Mann würde verhungern, angenommen, er würde sich in den Fluss stürzen.
»Früher einmal«, dachte Mather, »hat er meinem Vater geholfen. Hätte er es nicht getan, hätte mein eigenes Leben vielleicht einen völlig anderen Verlauf genommen. Aber Lacy konnte es sich damals leisten, und ich kann es eben nicht.«
Um sich von Mr. Lacys Bild zu befreien, versuchte Mather an Jacqueline zu denken. Er sagte sich immer wieder, dass es bedeutet hätte, Jacqueline für einen ausgebrannten Mann zu opfern, der seine Chance gehabt und sie verspielt hatte. Doch Jacqueline brauchte ihre Chance – jetzt mehr denn je.
Mather sah auf die Uhr. Er saß seit zehn Minuten in der Straßenbahn. Noch
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