Winterträume
grotesken Staubwolke die Straße hinunter. Kurz bevor sie die erste Biegung erreicht hatten, sah Amanthis sie abrupt stehenbleiben, aussteigen und den oberen Teil des Wagens auf den unteren schieben. Ohne sich umzublicken, nahmen sie ihre Plätze wieder ein. Dann die Biegung – und sie waren außer Sichtweite, und nur ein schwacher brauner Nebelschleier bezeugte, dass sie dagewesen waren.
Heißes und kaltes Blut
I
Die jungen Mathers waren seit etwa einem Jahr verheiratet, als Jacqueline eines Tages in die Räume der Maklerfirma kam, die ihr Ehemann mit mehr als durchschnittlichem Erfolg betrieb. Vor der offenen Tür seines Büros blieb sie stehen und sagte: »Oh, Verzeihung –« Sie hatte eine an und für sich alltägliche und dennoch rätselhafte Szene unterbrochen. Ein junger Mann namens Bronson, den sie flüchtig kannte, stand vor ihrem Mann, der sich von seinem Schreibtisch erhoben hatte. Bronson hielt die Hand ihres Manns und schüttelte sie ernst, ja mehr als ernst. Als die beiden Jacquelines Schritte hörten, drehten sie sich um, und Jacqueline sah, dass Bronsons Augen gerötet waren.
Einen Augenblick später kam er aus dem Zimmer und ging mit einem leicht verlegenen Gruß an ihr vorbei. Sie betrat das Büro ihres Mannes.
»Was wollte Ed Bronson von dir?«, fragte sie neugierig und ohne Umschweife.
Jim Mather lächelte sie an, wobei er seine grauen Augen halb schloss, und zog sie wortlos zu seinem Schreibtisch, bis sie sich auf die Tischkante setzte.
»Er kam nur kurz vorbei«, sagte er leichthin. »Wie steht es zu Hause?«
»Alles in Ordnung.« Sie sah ihn neugierig an. »Was wollte er?«, wiederholte sie beharrlich.
»Ach, er wollte nur etwas mit mir besprechen.«
»Und was?«
»Ach, nichts weiter. Etwas Geschäftliches.«
»Warum hatte er rote Augen?«
»Hatte er das?« Er sah sie unschuldig an – und dann mussten beide lachen. Jacqueline stand auf, ging um den Schreibtisch herum und ließ sich in Jims Drehstuhl fallen.
»Du erzählst es mir besser gleich«, erklärte sie fröhlich, »denn vorher gehe ich nicht.«
»Na gut –« Er zögerte und runzelte die Stirn. »Er hat mich um einen kleinen Gefallen gebeten.«
Und da begriff Jacqueline – besser gesagt, ihr Verstand erriet eher zufällig die Wahrheit.
»Oh.« Ihre Stimme klang leicht gepresst. »Du hast ihm Geld geliehen.«
»Nur ein bisschen.«
»Wie viel?«
»Nur dreihundert.«
» Nur dreihundert?« Ihre Stimme hatte die Beschaffenheit von ausgekühltem Bessemerstahl. »Wie viel geben wir im Monat aus, Jim?«
»Wieso – nun ja, fünf- bis sechshundert, nehme ich an.« Er trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »Sei unbesorgt, Jack. Bronson zahlt es zurück. Er steckt gerade in der Klemme. Er hat einen Fehler gemacht mit einem Mädchen in Woodmere –«
»Und er weiß, dass du nicht nein sagen kannst, also kommt er zu dir«, fiel ihm Jacqueline ins Wort.
»Nein.« Er widersprach ihr entschieden.
»Kannst du dir nicht vorstellen, dass ich dreihundert Dollar auch gut gebrauchen könnte?«, fragte sie. »Was ist mit der Reise nach New York, die wir uns im vergangenen November nicht leisten konnten?«
Das hartnäckige Lächeln schwand von Mathers Miene. Er ging zur Zimmertür und schloss sie.
»Hör mal zu, Jack«, begann er, »das kannst du nicht verstehen. Mit Bronson gehe ich fast jeden Tag zum Lunch. Als Kinder haben wir zusammen gespielt; wir sind zusammen zur Schule gegangen. Verstehst du denn nicht, dass er sich völlig zu Recht an mich wendet, wenn er Schwierigkeiten hat? Und deshalb konnte ich es ihm nicht abschlagen.«
Jacqueline bewegte die Schultern, als wollte sie damit seine Argumente abschütteln.
»Und wennschon«, antwortete sie entschieden. »Ich weiß nur, dass er nichts taugt. Er ist nie nüchtern, und wenn er keine Lust zum Arbeiten hat, dann hat er noch lange kein Recht, von deiner Arbeit zu leben.«
Inzwischen saßen sie einander am Schreibtisch gegenüber und redeten aufeinander ein, als hätte jeder von ihnen ein Kind vor sich. Die Sätze begannen mit »Jetzt hör mal zu!«, und ihre Mienen trugen den Ausdruck erschöpfter Geduld.
»Wenn du es nicht verstehen willst, kann ich dir nicht helfen«, sagte Mather nach einer Viertelstunde abschließend und in einem für seine Verhältnisse gereizten Ton. »Solche Verpflichtungen, denen man sich nicht entziehen kann, gibt es nun einmal unter Männern. Es ist komplizierter, als sich bloß zu weigern, jemandem Geld zu leihen, erst
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