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Winterträume

Winterträume

Titel: Winterträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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fünfzehn Minuten Fahrt, und die Hitze war so drückend, dass es einem den Atem raubte. Die Frau wurde wieder gegen ihn gedrückt, und aus dem Fenster sah er, dass sie um die letzte Ecke der Innenstadt bogen.
    Er überlegte, ob er nicht doch besser der Frau seinen Platz anbieten sollte – das letzte Mal, als sie gegen seine Schulter getaumelt war, hatte sie besonders erschöpft gewirkt. Wenn er sicher gewesen wäre, dass es sich um eine ältere Frau handelte – doch der Stoff ihres Kleides, den seine Hand berührt hatte, machte irgendwie den Eindruck, als wäre sie noch jung. Er wagte nicht aufzublicken, um sich zu vergewissern. Er fürchtete sich vor dem Flehen, das er in ihren Augen lesen könnte, wenn es alte, und vor der unverhüllten Verachtung, wenn es junge Augen waren.
    Die nächsten fünf Minuten quälte er sich auf verworrene und erstickte Weise mit der inzwischen für ihn ins Unermessliche angewachsenen Frage ab, ob er ihr seinen Sitz überlassen sollte. Er hatte das undeutliche Gefühl, damit wenigstens teilweise wiedergutmachen zu können, dass er nachmittags Mr. Lacy mit leeren Händen weggeschickt hatte. Es wäre allzu herzlos, gleich zwei kaltblütige Dinge unmittelbar nacheinander getan zu haben, obendrein an einem solchen Tag.
    Er versuchte es nochmals mit dem Cartoon, vergeblich. Er musste sich auf Jacqueline konzentrieren. Inzwischen war er todmüde; wenn er jetzt aufstand, würde er noch müder werden. Jacqueline erwartete ihn, sie brauchte ihn. Sie würde niedergeschlagen sein, und sie würde erwarten, dass er sie nach dem Abendessen eine Stunde lang friedlich in den Armen hielt. Wenn er müde war, war das ziemlich anstrengend. Und wenn sie dann ins Bett gingen, würde sie ihn ab und zu bitten, ihr ihre Arznei oder ein Glas Eiswasser zu holen. Er wollte auf keinen Fall überdrüssig wirken, wenn er ihr diese kleinen Dienste erwies, damit sie sich künftig nicht etwa die Bitte um etwas versagte, was sie benötigte.
    Die junge Frau neben ihm schwankte schon wieder gegen ihn, doch diesmal war es, als ließe sie sich gegen ihn fallen. Auch sie war müde. Nun ja, das Arbeiten war ermüdend. Bruchstücke von Sprichwörtern über Mühsal und lange Arbeitstage geisterten ihm durch den Sinn. Alle Menschen waren müde – diese Frau zum Beispiel, deren Körper so ermattet, so eigenartig gegen ihn sackte. Doch an erster Stelle kamen sein Zuhause und sein Mädchen, das er liebte und das zu Hause auf ihn wartete. Er musste seine Kraft für sie aufsparen, und er sagte sich immer wieder, dass er seinen Sitzplatz nicht aufgeben würde.
    Da hörte er einen langgedehnten Seufzer, gefolgt von einem Aufschrei, und er merkte, dass das Mädchen nicht mehr an ihm lehnte. Der Aufschrei schwoll zu Stimmengewirr an, dann kam eine Pause, bevor erneut Stimmengewirr ertönte, Rufe und schrille Schreie, die durch den Wagen zum Fahrer vordrangen. Die Glocke wurde heftig geläutet, und die heiße Straßenbahn hielt mit einem Ruck an.
    »Mädchen hier drinnen ohnmächtig geworden!«
    »Zu heiß für sie!«
    »Einfach umgekippt!«
    »Gehen Sie zurück! Machen Sie den Gang frei!«
    Die Menge wich zurück. Die Fahrgäste vorne im Wagen drängten sich zusammen, und die auf der hinteren Plattform stiegen vorübergehend aus. Neugier und Mitleid wallten auf in den Grüppchen, die sich plötzlich unterhielten. Die Leute wollten helfen, standen im Weg. Dann wurde die Glocke geläutet, und das Stimmengewirr wurde wieder lauter und schriller.
    »Ist sie unversehrt rausgekommen?«
    »Haben Sie das gesehen?«
    »Diese verdammte Straßenbahngesellschaft sollte –«
    »Haben Sie den Mann gesehen, der sie rausgetragen hat? Der war so bleich wie ein Gespenst.«
    »Ja, aber haben Sie gehört –«
    »Was?«
    »Dieser Bursche. Der bleiche Bursche, der sie rausgetragen hat. Er hat neben ihr gesessen – und er sagt, er sei ihr Mann!«
    Im Haus war es still. Ein leiser Windhauch bewegte die dunklen Blätter der Ranken an der Veranda, so dass dünne gelbe Mondstrahlen auf die Rohrstühle fielen. Jacqueline ruhte friedlich auf der Chaiselongue, den Kopf in Mathers Armen. Nach einiger Zeit bewegte sie sich träge, hob die Hand und tätschelte ihm die Wange.
    »Ich glaube, ich gehe langsam ins Bett. Ich bin so müde. Hilfst du mir auf?«
    Er hob sie hoch, legte sie aber in die Kissen zurück.
    »Ich bin in einer Minute bei dir«, sagte er sanft. »Kannst du die eine Minute warten?«
    Er ging in das hell erleuchtete Wohnzimmer, und sie hörte, wie

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