Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
Sie schöpften neue Hoffnung und drangen auf den Gegner ein.
Die Schleiereulen, immer noch weit von der Hitze des Gefechts entfernt, hielten inne. Hunderte von Bogen wurden lautlos gespannt. Ein Schwarm Pfeile jagte hoch und weit durch die Luft. Der zweite Schwarm schnellte von den Sehnen, noch ehe der erste auf die Nachhut und die Bogenschützen niederregnete.
Shraeve und ihre Inkallim pflügten eine Schneise durch die Reihen des Feinds.
»Vorwärts! Vorwärts!«, schrie Kanin. Igris preschte an seine Seite.
Innerhalb kürzester Zeit wurde der Feind in die Flucht geschlagen. Dutzende von Kämpfern fielen, behindert vom aufgewühlten Boden des schlammigen Geländes – Krieger aus Kolglas, Glasbridge und den Ländereien von Kilkry, Städter und Dorfbewohner, die für ihr Herrschergeschlecht in den Kampf gezogen waren. Ihre Leichen lagen in großen Haufen auf den Wiesen und Feldern, wie ausgestreuter Dung, der nur darauf wartete, untergepflügt zu werden. Die Überlebenden strömten in Panik nach Süden, verfolgt von den wenigen berittenen Horin-Gyre-Kriegern. Gerain nan Kilkry-Haig starb unerkannt, zu Tode gequetscht von seinem mächtigen Streitross, das stürzte, als ihm geschickte Hände die Sehnen durchschnitten.
Die Tarbain rannten in Gruppen über das Schlachtfeld, töteten die verwundeten Feinde und raubten die Gefallenen aus. Kanin beobachtete, wie die eigenen Toten und Verletzten eingesammelt und vorbeigetragen wurden. Es waren viele Barbaren darunter, die sich unter Stöhnen wanden und ihrem Schmerz freien Lauf ließen. Kanins Haus hatte die neuen Ländereien im Norden wie alle Linien des Schwarzen Pfads erst nach langen Kämpfen mit den Eingeborenenstämmen erobert. Diese Wilden standen nach seiner Ansicht kaum über den Waldelfen. Die meisten waren mittlerweile zwar bekehrt und für den wahren Glauben gewonnen, aber in der Art und Weise, wie sie mit dem Leiden umgingen und sich gegen den Tod zur Wehr setzten, erkannte er, dass die Lehren des Schwarzen Pfads noch keine tiefen Wurzeln geschlagen hatten. Die Horin-Gyre-Krieger dagegen ertrugen ihre Schmerzen schweigend, und das gefiel Kanin. Im Wissen um den Lauf der Welt und im Annehmen des Schicksals lag Stärke. Die Sterbenden würden die Erlöser-Klinge – das schmale Messer, das jeder Heiler des Schwarzen Pfads bei sich trug, um es den Auserwählten zwischen die Rippen und mitten ins Herz zu stoßen – mit Würde empfangen und freudig in die neue Welt und das neue Leben eingehen.
Wain kam und holte ihn von den Verwundeten weg. Einige Männer in ihrer Begleitung schleppten prall gefüllte Säcke. Sie hatten Köpfe gesammelt, die man über die Burgmauer von Anduran werfen wollte.
Die Kyrinin hatten sich seit dem Ende der Schlacht im Hintergrund gehalten. Nun löste sich eine kleine Gruppe aus der Schar der Schleiereulen und kam, den Toten sorgsam ausweichend, über die Sumpfwiese näher – ein Dutzend Krieger, die Gesichter mit verwirrenden Spiralmustern tätowiert, in deren Mitte sich eine hochgewachsene, unbewaffnete Gestalt befand. Es dauerte einige Zeit, bis Kanin den Mann erkannte. Wain war schneller als er.
»Aeglyss«, murmelte sie.
Als die Kyrinin die Heereskämpfer passierten, die in kleinen Trupps umherstanden, wurden sie mit feindseligen Blicken bedacht. Die Schleiereulen schienen es nicht zu bemerken. Aeglyss hingegen wirkte belustigt. Er trat vor Kanin und verzog das Gesicht zu einem schwachen Lächeln.
»Ihr scheint nicht gerade erfreut, mich zu sehen«, sagte der Na’kyrim , ehe Kanin das Wort ergreifen konnte. »Ich hatte mit einem wärmeren Empfang gerechnet.«
»Ich bin überrascht, das ist alles.«
Aeglyss stieß ein kurzes, hartes Lachen aus. »Zweifellos angenehm überrascht, oder?«
Kanin runzelte die Stirn. Die kriecherische, unterwürfige Haltung, die das Halbblut erst am Vortag zur Schau gestellt hatte, schien es nie gegeben zu haben. Jetzt strotzte der Mann vor Anmaßung und Selbstzufriedenheit. Womöglich hielt er sich sogar für so etwas wie einen Helden. Er war unberechenbar und unbeständig wie ein Kind.
»Ihr solltet Euch bei mir bedanken«, fuhr Aeglyss fort und deutete mit einer weit ausholenden Geste auf das Schlachtfeld. »Wären wir nicht im rechten Augenblick aufgetaucht, hätte der Kampf vermutlich anders geendet.«
Kanin folgte Aeglyss’ Armbewegung mit den Blicken. Er sah die Leichen von Männern, Frauen und Pferden. Er sah den zertrampelten, aufgewühlten Boden. Nirgends war eine Spur von Grün
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