Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
erkannte der Menschenkenner Mordyn den Hass, der in den Augen des jungen Mannes glomm. Es war ein ohnmächtiger Hass, solange sich sein Vater Lheanor an den Treueid gegenüber Gryvan gebunden fühlte. Und deshalb schenkte Mordyn ihm wenig Beachtung.
Mehr Kopfzerbrechen bereitete ihm die Gestalt, die in der Nähe des Thans von Taral stand – Alem T’anarch, der Botschafter des Königreichs Dornach. Mit seinem fahlen, im Nacken zusammengebundenen Haar und der protzigen Diamantfibel am Kragen des schwarzen Umhangs war der Botschafter eine exotische, leicht beunruhigende Erscheinung. Gryvan hatte sich seit seiner Rückkehr geweigert, auch nur ein Wort mit T’anarch zu wechseln, obwohl dieser mit Nachdruck eine Audienz verlangte. Unbeeindruckt von dieser Ablehnung hatte der Botschafter in einer schriftlichen Note Anspruch auf Reparationen erhoben – zahlbar an die Familien der gut zweihundert Söldner von Dornach, die während des Feldzugs in Gefangenschaft geraten und von Gryvans Leuten hingerichtet worden waren. Es war eine unverschämte Forderung, und sie roch nach einem Disput, der leicht aus dem Ruder laufen konnte. Ein Krieg mit dem Königreich war zwar unvermeidlich, wenn das Haus Haig seine Herrschaft bis in die reichen Ländereien des Südens auszudehnen gedachte, aber die Zeit für die Eroberung war noch nicht reif.
Das Geschenk von den Goldschmieden war die letzte Gabe, die überreicht wurde. Hörner ertönten, und ihr Klang brach sich silbern an den Steinmauern der Großen Halle. Die Zuschauer strömten zu den Portalen, ein träger Fluss selbstgefälliger Nachsicht und Zufriedenheit.
Als Mordyn sich am Abend zu Gryvan begab, war der Hoch-Than in bester Laune. Mordyn roch den Süßwein, den er mit seinen Söhnen getrunken hatte, während sie in einem der schmalen, hoch gelegenen Terrassengärten an der Flanke des Palasts Adler zur Jagd abrichteten. Mordyn widmete weder dem Titelerben Aewult noch seinem jüngeren Bruder Stravan besonders viel Zeit. Keiner von ihnen konnte es mit Gryvans unbeirrbarem Machthunger aufnehmen. Das ließ sie in den Augen des Kanzlers als ungeeignet für die Thronfolge – und für seine eigenen Pläne – erscheinen. Aber der Hoch-Than liebte sie, und deshalb behielt Mordyn seine Einschätzung für sich. Noch war Zeit; vielleicht entwickelte einer der beiden später einmal genügend Energie, um die träge Lawine der Haig-Vorherrschaft in Bewegung zu halten.
Die Brüder hatten sich verabschiedet, um sinnlicheren Vergnügungen nachzugehen, als Mordyn mit leisen Schritten über das Gras geschlendert kam, um sich zu Gryvan zu gesellen. Der Hoch-Than stand am Rand der Terrasse und ließ die Blicke über seine Residenzstadt schweifen. Eine Gruppe von Jägern wartete in respektvoller Entfernung, auf den Handgelenken die mächtigen braunen Beiz-Adler. Kale, der oberste Leibwächter des Hoch-Thans, war bei ihnen. Aufmerksam beobachteten er und die Vögel den Neuankömmling, der neben Gryvan stehen blieb. Mordyn war inzwischen so lange in Diensten des Herrschers, dass er selbst leiseste Gefühlsregungen erkennen konnte, ohne ein Wort mit ihm gewechselt zu haben. Und Gryvan wurde so gut wie nie von Gefühlsregungen heimgesucht, die man als leise bezeichnen konnte. Gegenwärtig, das spürte der Kanzler deutlich, befand sich sein Herr in Hochstimmung.
In der Tiefe drängten sich Tausende von Häusern, durchzogen von einem Gewirr enger Straßen, aus denen das stete Murmeln pulsierenden Lebens aufstieg. Hier und da, verstreut zwischen dem Mondpalast und dem fernen Horizont der Stadtmauer, ragten größere Bauwerke gleich Inseln in einer dunklen, wild bewegten See über die Dächer auf. In der Ferne entdeckte Mordyn seinen eigenen Roten Steinpalast. Die letzten Sonnenstrahlen umspielten die Porphyrblöcke, und seine Gedanken wanderten zu Tara, die irgendwo in den Tiefen des Bauwerks auf seine Rückkehr wartete. Es gab noch andere stattliche Bauten – den Palast des Titelerben, wo Aewult Feste und Gelage veranstaltete, die Mordyn lieber mied; den Weißen Palast mit seiner Marmorfassade, in den sich Abeh mit ihrem Haushalt zurückzog, wann immer der Hoch-Than die Stadt für längere Zeit verließ; das Gildehaus der Steinschleifer, das erst im letzten Sommer einen neuen Turm erhalten hatte, höher als jedes Gebäude in Vaymouth mit Ausnahme des Mondpalasts selbst. Es fesselte Mordyns Aufmerksamkeit etwas länger als die übrigen Prunkbauten und brachte ihm noch einmal seine unangenehmen
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