Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
in einer Schlacht erlebt. Sie kannten die wilden Geschichten, die im Umlauf waren. Nun sahen sie mit eigenen Augen, dass keins dieser Gerüchte übertrieben war. Mit der Leichtigkeit von Vögeln, die den wildesten Sturmböen trotzen, wirbelten und tanzten sie eine blutige Gasse durch das Kampfgeschehen. Bereits zu Beginn des Gemetzels, als die Raben aus der Welt der Phantasie unvermittelt in die Wirklichkeit traten und Mann um Mann unter ihren Schwertern fiel, geriet der Kampfeswille der Kilkry- und Lannis-Krieger ins Stocken, zerbrach und löste sich in nichts auf. Sie wandten sich zur Flucht, erst einer, dann zehn und dann hundert. Getrieben von dem verzweifelten Wunsch, den Inkallim zu entkommen, trampelten sie die eigenen Gefährten nieder. Ein Teil der Horin-Gyre-Reiter setzte ihnen nach, angestachelt von der plötzlichen Wende des Kampfgeschehens. Auch die Tarbain kehrten mordgierig zurück, als sie ihre Feinde plötzlich nur noch von hinten sahen.
Die Inkallim hielten inne, sobald die Gegner den Rückzug antraten. Ihr Eingreifen war kalt und beherrscht. Mit lauter Stimme erteilte Kanin Befehle. Diejenigen seiner Krieger, die ihn hören konnten, scharten sich um ihn. Er wusste ebenso gut wie Shraeve und ihre Raben, dass die Schlacht noch nicht gewonnen war. Die Flanke mochte abgesichert sein, aber die Linie hatte sich größtenteils in einen brodelnden Mahlstrom verwandelt. Die feindlichen Bogenschützen schickten immer noch ihre Pfeilhagel in das Gewühl, ohne Rücksicht darauf, wen sie trafen. Das Zentrum der Horin-Gyre-Schlachtordnung brach ein. Es waren nicht nur die Tarbain, die zurückwichen.
Mittlerweile hatten sich alle Überlebenden von Kanins Schildwache um ihren Anführer versammelt. Weitere vierzig bis fünfzig Krieger stießen zu ihm. Wortlos hob er das Schwert, gab seinem Pferd die Sporen und lenkte es in das dichteste Kampfgetümmel. Die Inkallim stürmten im Laufschritt neben seiner Truppe her. Die Welt fiel zwischen zwei Atemzüge. Blut und Schlamm waren eins; das Kampfgeschrei, das die Luft erfüllte, sog jeden anderen Laut auf und floss zu einem formlosen Lärmbrei zusammen. Körper trafen aufeinander, wurden durchbohrt, zerhackt, zerbrochen. Die Füße der Lebenden trampelten die Gefallenen in den Morast.
Kanin fand sich plötzlich ohne Gegner auf einem freien Fleck. Eine abgetrennte Hand lag in einem tiefen Hufabdruck. Daneben stak ein zersplitterter Speer. Die Brust schmerzte ihm bei jedem Atemzug. Er schmeckte Blut auf den Lippen, wusste aber nicht, von wem es stammte. Sein Pferd zitterte. Dann war Wain vor ihm und schrie auf ihn ein. Kanin runzelte die Stirn. Er sah, dass sie die Lippen bewegte, aber aus ihrem Mund quollen nur das Stöhnen der Sterbenden und das Klirren von Schwertern.
»Sieh doch!«, verstand er schließlich. »Aus dem Wald …«
Sie deutete mit dem Schwert, und er wandte den Kopf in die angegebene Richtung. Der Anblick, der sich ihm bot, ergab zunächst keinen Sinn. Jenseits des Schlachtfelds tauchten weitere Krieger auf. Sie kamen über das flache Weideland im Süden, wo es noch Gras und Himmel und Stille gab – eine Truppe ohne Banner und ohne Pferde, zwei- bis dreihundert Gestalten, die in einem ungeordneten Haufen schweigend näher rückten.
»Was …?«, fragte Kanin verwirrt.
»Kyrinin!«, schrie Wain. »Schleiereulen!«
Er sah, dass sie recht hatte. Selbst im trüben Licht dieses Tags und auf die große Entfernung hin erkannte er, dass es kein Menschenheer war. Das Bild, das sich ihm bot, musste jeden Betrachter verblüffen. Angeblich gab es noch einige große Kyrinin-Clans weit im Osten und Süden, die den Mut besaßen, auf offenem Gelände zu kämpfen, aber Kanin hätte nie geglaubt, dass die Schleiereulen zu diesen Stämmen gehörten. Dass sie obendrein für den Schwarzen Pfad in die Schlacht zogen – wissentlich oder nicht –, erfüllte ihn mit wilder Begeisterung.
Die Krieger von Kilkry und Lannis sahen das mit völlig anderen Augen. Sie erblickten einen neuen Feind, Hunderte Mann stark, der sie von hinten und entlang der Flanke angriff. Unsicherheit ergriff sie und breitete sich aus. Einige versuchten sich aus dem Gewühl zu lösen und der neuen Bedrohung zu stellen. Die Bogenschützen, die bisher nur aus der Ferne in das Kampfgeschehen eingegriffen hatten, merkten plötzlich, wie ungeschützt und verwundbar sie waren. Ihre Reihen gerieten ins Wanken. Die Horin-Gyre-Krieger bekamen nur mit, dass die Kämpfer vor ihnen mit einem Mal zögerten.
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