Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
schwer abschätzen.«
Kanin runzelte die Stirn, zwang sich dann aber zu einer freundlicheren Miene. Er hielt es für unklug, seine Missbilligung offen zu zeigen. Streitigkeiten mit der Jäger-Inkall konnten nur zu Schwierigkeiten führen. Dennoch hegte er den Verdacht, dass Cannek mehr wusste, als er preisgab.
»Vielleicht solltet Ihr diese Gefangene aus dem Haus Lannis hinrichten, wie Ihr es angedroht hattet«, meinte Cannek nachdenklich.
»Damit erreichen wir gar nichts«, entgegnete Kanin. »Lebendig nützt sie uns mehr, zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Da ihr Bruder in Kolglas entkam –«, er warf Shraeve einen Blick zu, aber sie beachtete ihn nicht –, »bekommen wir es über kurz oder lang vielleicht mit ihm zu tun. Das Mädchen könnte sich bei Verhandlungen als wertvoll erweisen.«
Das leichte Scharren eines Stuhlbeins im Hintergrund lenkte Kanins Aufmerksamkeit auf den Na’kyrim . Aeglyss beugte sich so weit vor, als versuche er die Lücke zwischen sich und den anderen zu schließen. Kanin hätte sich Wains Vorschlag, das Halbblut an den Gesprächen teilnehmen zu lassen, widersetzen sollen, aber sie war so beharrlich gewesen, dass er schließlich nachgegeben hatte. Sie glaubte fest daran, dass er sich auch weiterhin als nützlich erweisen könnte, und Kanin hatte kein stärkeres Argument als seine Abneigung gegen den Mann.
»Es spielt kaum eine Rolle, ob fünfzig oder hundert Schwerter den Burgwall verteidigen«, erklärte Wain. »Wir befinden uns seit dem Tag, da wir von Hakkan aufbrachen, in der Hand der Vorsehung. Warum sollen wir jetzt kehrtmachen? Ob wir siegen oder verlieren, wir werden den im Buch des Verhüllten Gottes gepriesenen Mut beweisen.«
Sie ist immer so sicher, dachte Kanin. Immer als Erste bereit, die Vorsehung auf die Probe zu stellen. Wenn wir uns alle so bereitwillig dem Schwarzen Pfad hingeben könnten, wären unsere Heere ein unaufhaltsamer Sturm, der Kilkry, Haig und selbst die Königreiche im Süden hinwegfegte. Besäßen wir alle die Standhaftigkeit von Wain, wäre der Kall schon vor Jahren gekommen.
»Da ist jemand.«
Die Worte kamen so unerwartet, so ohne jeden Zusammenhang, dass zunächst keiner der Anwesenden genau wusste, wer sie ausgesprochen hatte. Erst nach und nach richteten sich alle Blicke auf Aeglyss. Der Na’kyrim saß aufrecht auf seinem Stuhl, die Augen prüfend verengt, den Kopf nach einer Seite geneigt, als lausche er angestrengt einem schwachen Wispern. Er schaute zum Dachgebälk hinauf, spähte in die entferntesten Winkel der Halle …
»Ein ungebetener Gast«, murmelte er.
»Wovon redet Ihr?«, herrschte ihn Kanin an.
»Psst«, machte Aeglyss.
Die Augen des Titelerben weiteten sich. Er sprang auf.
»Was nehmt Ihr Euch heraus …«, begann er, verstummte jedoch, als der Na’kyrim plötzlich das Gesicht verzerrte und sich taumelnd erhob. Ein beunruhigtes Raunen lief durch die Halle. Aeglyss wankte zum Ausgang, die rechte Hand gegen die Schläfe gepresst.
»Sucht nach mir …«, sagte er vor sich hin. Es war deutlich zu erkennen, dass er Kanin und die anderen kaum wahrnahm. Unvermittelt hielt er inne und starrte auf das Podest am Ende der Halle. Dann stieß er ein gezwungenes Lachen aus. »Nicht schlecht gemacht, wer immer Ihr seid! Wie Rauch … eine Frau, wenn ich die Umrisse richtig deute.«
Kanin schaute in die gleiche Richtung wie der Na’kyrim , konnte aber nichts entdecken. Bis auf eine Staubschicht und die zerfetzten Dekorationen des Winterfests war das Podest leer. Igris hatte sich ebenfalls erhoben. Er warf dem Titelerben einen fragenden Blick zu.
»Das ist eine erstaunliche Gabe«, sagte Aeglyss und tat noch einen Schritt auf das Podest zu. »Ihr müsst mir verraten, wie Ihr das macht, ehrenwerte Dame, falls wir uns einmal begegnen. Aber nicht jetzt. Nein, wer immer Ihr seid, ich lasse nicht zu, dass Ihr mir über die Schulter schaut!«
Seine Hände zuckten, als wollten sie nach etwas auf dem Podest greifen, das nur er sah. Seine Schultern spannten sich an.
»Verschwindet!«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Verschwindet!«
»Er hat den Verstand verloren«, raunte der Leibwächter Kanin ins Ohr. »Soll ich ihn töten?«
Kanin zögerte. Für einen kurzen Augenblick war er geneigt, die Frage zu bejahen, aber eine morbide Faszination hielt ihn davon ab. Noch ehe er etwas erwidern konnte, stöhnte Aeglyss plötzlich auf und stürzte zu Boden. Reglos und mit blutverschmiertem Gesicht lag er da. Er hatte
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