Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
ihrem Willen geformt hatten.
Die Na’kyrim von heute stellten nur einen schwachen Abglanz dessen dar, was sie in jüngeren Tagen gewesen waren, und Inurian hatte das immer sehr begrüßt. Die Machtfülle der großen alten Na’kyrim hatte in jenen, die niemals hoffen konnten, sie zu verstehen, Furcht und Abscheu ausgelöst. Das galt gleichermaßen für Huanin und Kyrinin. Schlimmer noch, diese Machtfülle hatte die Na’kyrim selbst verdorben: Sie berauschten sich an ihrer Stärke und Überlegenheit, und viele von ihnen entwickelten sich zum Auge blutiger Stürme. Genau das war die Gesellschaft, in die sich Aeglyss einzureihen versuchte; daran gab es für Inurian keinen Zweifel. Dieser gestörte, von Zorn und Schmerzen getriebene junge Na’kyrim würde einen langen Schatten werfen, wenn er je an die heiß ersehnte Macht gelangte. Inurian spürte, wie die Schrecken der Geschichte näher rückten, nur darauf lauernd, erneut entfesselt und auf die Welt losgelassen zu werden.
Er wusste, was es hieß, von allen gemieden zu werden, von beiden Gemeinschaften, denen man entstammte, ausgeschlossen zu werden. Alle Rassen dieser Welt waren Verstoßene – alle sehnten sich nach einem Ersatz für die Gewissheiten, die mit den Göttern verschwunden waren –, aber keine stand so völlig mit leeren Händen da wie die Na’kyrim , ohne eigene Heimat, ohne eigenes Volk, ohne eigene Kinder. Doch in Kennet nan Lannis-Haig hatte Inurian einen Mann gefunden, der einen Na’kyrim ansehen und ein ebenbürtiges Geschöpf hinter den grauen Augen erkennen konnte, die seinen Blick erwiderten. Er hatte eine ganze Familie gefunden, die er lieben konnte, anstelle der Nachkommen, die er nie haben würde: Kennet und Lairis, deren gegenseitige Zuneigung die kalten Räume von Kolglas erwärmt hatten; Fariel, der wunderbar begabte Fariel, der seine Talente mit einer Anmut einsetzte, die über seine Jugend hinwegtäuschte; Anyara, die vor Inurians innerem Auge nicht verbergen konnte, was sie so gut vor den anderen verbarg. Und Orisian. Der Junge, der im Schatten seines Bruders aufwuchs und dem das Herz brach, als dieser Schatten fortgerissen und er selbst dem harten, grellen Licht ausgesetzt wurde. Er hatte sie alle geliebt, aber Orisian am meisten.
Und er hatte sie am Ende enttäuscht. Lairis und Fariel hatten die Reise zur Toteninsel angetreten. Der im Kampf gefallene Kennet hatte sein Ende als Erlösung betrachtet. Vielleicht lebte Orisian noch – wenn dieser Junge gestorben wäre, hätte er es mit Sicherheit gespürt –, aber er befand sich allem Anschein nach so weit weg, dass Inurian ihm nicht helfen konnte. Blieb also nur Anyara. Falls es ihm irgendwie vergönnt sein sollte, am Leben zu bleiben, musste er einen Weg finden, sie zu beschützen.
Vor seinem Zellenfenster klang Flügelschlag auf. Inurian erhob sich und spähte nach oben. Er konnte das Fenster nicht erreichen und sah nichts außer einem Stück Nachthimmel. Das leise Schnarren einer Krähe drang an sein Ohr. Inurian lächelte traurig und legte sich nieder.
Er schlief unruhig. Die Steinplatten, auf denen er lag, waren hart und rau, und die dünne Decke hielt die Kälte kaum ab. Was ihn schließlich weckte, war weniger greifbar, weniger wirklich: ein Rufen in seinen Träumen, eine Stimme, die aus weiter Ferne in sein Bewusstsein drang. Er presste die Hände gegen die Augen und horchte ins Halbdunkel. Durch das hoch gelegene Fenster sickerte das schwache Licht der Frühdämmerung in die Zelle. Er hörte nichts außer dem leisen Scharren einer unsichtbaren Ratte und dem halbherzigen Trommeln von Regentropfen auf dem Dach. Mühsam rollte er auf eine Seite und setzte sich auf. Als er sich schlaftrunken umschaute, nahm er zunächst überhaupt nichts wahr. Dann erregte eine schwache Trübung am anderen Ende der Zelle seine Aufmerksamkeit.
Er beobachtete, wie sich allmählich aus dem Nichts eine Gestalt bildete. Sie war zu verschwommen und die Zelle zu dunkel für Einzelheiten, aber er erkannte, dass es sich um die Silhouette einer Frau handelte. Der Regen draußen wurde stärker und prasselte laut gegen das Dach.
»Ich hatte gedacht, du lebst vielleicht nicht mehr«, sagte Inurian.
»Ich bezweifle, dass du überhaupt an mich gedacht hast«, kam die Antwort, leise wie ein Hauch von den Wänden selbst. Inurian knurrte etwas Unverständliches und verschränkte die Arme.
»Auch ich hatte seit einiger Zeit nicht mehr an dich gedacht«, fuhr die weibliche Stimme fort, »bis ich hier
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