Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
noch nie erlebt hatte. »Einer entkam. Bald werden viele Speere kommen.«
»Wir müssen nach Anduran …«, begann Rothe.
»Dort ist der Tod«, unterbrach ihn Varryn.
»In Anduran steht kein Stein mehr auf dem anderen«, erklärte Anyara und beendete damit die Diskussion.
Rothe bückte sich und hob Inurian auf, als sich herausstellte, dass der Na’kyrim nicht stehen, geschweige denn laufen konnte. Ess’yr brach den Pfeilschaft ab, der im Rücken des Verwundeten steckte. Inurian stöhnte. Orisian empfand bei dem Laut eine entsetzliche Leere.
»Sollten wir nicht die Pfeilspitze aus der Wunde entfernen?«, fragte ihn Anyara.
»Nicht jetzt«, entgegnete Varryn, bevor Orisian antworten konnte. Und damit war er in der Nacht untergetaucht.
Orisian hielt sich so nahe wie möglich an Anyara. Er sehnte sich danach, mit ihr zu sprechen, sie zu fragen, was sich alles seit jener grauenvollen Nacht in Kolglas ereignet hatte, aber ihm blieb keine Zeit, um Atem zu schöpfen. Er konnte nur dicht neben ihr bleiben, ihr die Gewissheit geben, dass er bei ihr war.
Nun, da er keuchend und von Schmerzen geplagt unter den Bäumen am Waldrand stand, hatte er Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Varryn und Ess’yr starrten angestrengt in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Anyara ließ sich in die Wurzelmulden eines nahen Baums sinken und stützte den Kopf an der rauen Borke ab. Ihr Atem ging schnell und flach. Rothe bettete Inurian auf das kurze Gras und setzte sich neben ihn. Die kräftige Gestalt des Leibwächters wirkte eingefallen, und seine Arme hingen schlaff herunter. Orisian stolperte an seine Seite.
»Ist es noch zu schaffen?«, stieß er hervor.
Rothe nickte. Selbst im Halbdunkel erkannte Orisian, dass sich die Schultern des Hünen hoben und senkten, während er mühsam nach Luft rang.
»Inurian?«
»Lebt noch«, sagte Rothe. »Aber er wurde schlimm getroffen. Es tut mir leid.«
Unvermittelt klatschten Schwingen, und ein schwarzer Schatten stieß aus den Baumkronen in die Tiefe. Orisian schrie erschrocken auf. Auch Rothe war zusammengezuckt, aber dann vernahmen sie ein heiseres Krächzen, und der Leibwächter lachte gequält.
»Diese verdammte Krähe«, murmelte er.
Anyara kam zu ihnen herüber. »Idrin. Es ist Idrin. Sie ist uns die ganze Zeit über gefolgt.«
Und dann, während sich das erste graue Licht am Himmel ausbreitete, berichtete sie Orisian, was geschehen war. Weder Rothe noch ihr Bruder oder die beiden Kyrinin, die sich nach einer Weile ebenfalls zu ihnen gesellten und zuhörten, unterbrachen sie, als sie von den Inkallim und den Schleiereulen sprach, von Aglyss, dem Na’kyrim , und Kanin, dem Titelerben. Als sie fertig war, erzählte Orisian seine Geschichte.
Danach schwiegen sie eine Weile. Ess’yr kauerte neben Inurian nieder. Sie legte ihm eine Hand auf die Wange. Sie alle konnten sehen, dass die Züge des Na’kyrim starr und völlig blutleer waren. Er atmete röchelnd. In Ess’yrs Berührung lag eine ungewöhnliche Zärtlichkeit, und ein sonderbarer Ausdruck huschte über ihr stilles Gesicht. Aus irgendeinem Grund, den er nicht ganz zu fassen bekam, löste diese Szene im dünnen, tristen Morgenlicht – die Kyrinin-Frau und der geschwächte Na’kyrim , die kahlen Bäume ringsum und die mitternachtschwarze Krähe, die nahe bei ihrem Herrn blieb – einen tiefen inneren Schmerz in Orisian aus. Er wandte sich ab.
Varryn stand auf. Unter dem dichten Gespinst der Tätowierungen verbarg sich tiefe Besorgnis, als der Kyrinin seine Schwester betrachtete.
»Wir müssen weiter«, sagte er. »Wir verlieren Zeit.«
»Vielleicht folgen sie uns nicht«, meinte Orisian, der die Rast wenigstens noch eine kleine Weile ausdehnen wollte.
Es war Ess’yr, die ihm antwortete, obwohl sie den Blick unverwandt auf Inurians bleiche Züge gerichtet hielt. »Wir haben drei von ihnen getötet«, sagte sie. »Sie werden kommen.«
»Wir steigen höher«, erklärte Varryn, »und bewegen uns mit der Sonne. Zurück zum Vo’an .«
»Halt!«, fauchte Orisian. Er spürte, wie ihm die Zornröte in die Wangen stieg. Er war erschöpft und konnte es zumindest in diesem Augenblick nicht ertragen, dass Varryn ihn herumkommandierte. »Lass uns nachdenken. Rothe, wir müssen jetzt nach Glasbridge, oder?«
»Wenn Anduran besetzt ist, bleibt uns kein anderer Weg.«
»Wir könnten versuchen, die Straße zu erreichen.«
»Später vielleicht. Ich halte es für besser, im Schutz der Bäume zu bleiben, bis wir weiter im
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