Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
bedächtig. Er schien kurz nachzudenken. Dann atmete er tief durch.
»Gryvan oc Haig kämpft nur mit der Schattenhand Schulter an Schulter – ein übles Paar in Zeiten wie diesen. Heere wurden einberufen, aber auf den Straßen nach Norden sind keine größeren Hilfstruppen zu sehen. Was, glaubt Ihr, ist der Grund dafür? Mir kamen die Worte eines Haig-Kriegers zu Ohren – er ist Hauptmann bei den Bogenschützen –, dem der Wein in einer Taverne nicht weit von hier die Zunge gelockert hatte. Er behauptete, es werde keine Unterstützung für den Norden geben, bis das Geschlecht Lannis im Glas-Tal vollständig ausgerottet sei.« Der Gildemeister schüttelte den Kopf und sah sich verstohlen um. »Das Geschwätz eines Betrunkenen, wenn Ihr mich fragt, aber dennoch Gerüchte, wie man sie in dieser Gegend noch nie vernommen hat.«
»Allerdings«, murmelte Taim.
»Aber nun muss ich zu einer Besprechung mit dem Verwalter unseres Armenhauses. Die Arbeit der Zunft hört nie auf.«
»Das glaube ich gern«, meinte Taim. »Ich danke Euch, dass Ihr Euch Zeit für mich genommen habt.«
Taim schritt gedankenverloren durch die Straßen von Dun Aygll. Als er vor vielen Monaten in den Süden aufgebrochen war, hatte er seiner Frau versprochen, zu ihr zurückzukehren. Nun kehrte er zurück, aber vielleicht kam er zu spät. Zu spät für sie. Zu spät für alle. Im Glas-Tal herrschte Krieg. Er befürchtete, dass er seine Männer geradewegs in den Tod führte. Aber zumindest war es besser, hier in den Dunklen Schlaf zu fallen als in den Bergen von Dargannan-Haig, wo so viele ihrer Kameraden geblieben waren, und die Geschlechter vom Schwarzen Pfad waren ein würdiger Gegner. Aber wenn die Aussage des Gildemeisters der Wahrheit entsprach – und sie deckte sich mit Taims Verdacht –, dann musste es irgendwie auch eine Abrechnung mit dem Haus Haig geben. Taim war sich im Klaren darüber, dass er in den kommenden Wochen und Monaten weder Ruhe noch Frieden finden würde. Sie gingen blutigen Zeiten entgegen.
II
Der Dyn Hane verschluckte sie. Während die Weiden dichter zusammenrückten und das Tageslicht von Düsterkeit und Schatten verdrängt wurde, stolperte Orisian benommen und ungläubig weiter. Er wollte losschreien, sie zum Anhalten und zur Umkehr zwingen. Nichts war so, wie es sein sollte. Aber Rothe ging dicht hinter ihm, und sie konnten nicht anhalten. Ihnen blieb keine andere Wahl als weiterzugehen.
Dünne Zweige peitschten ihm ins Gesicht. Die Bäume standen eng. Es gab keinen Weg durch diese Ruhestätte der Toten. Orisian spürte etwas auf der Wange. Ein Insekt, dachte er, und versuchte es zu verscheuchen, bis er merkte, dass es eine Träne war.
Unvermittelt war das Weidengehölz zu Ende. Vor ihnen ragte eine steile Felsenwand auf. Nicht weit entfernt stürzte der Sarnsprung aus großer Höhe in einen brodelnden Teich, aus dem Sprühnebel aufstiegen. Orisian schaute nach oben und spürte den kalten Hauch von tausend Wassertropfen auf der Haut.
»Wir sollten umkehren«, raunte er. Nur Rothe konnte ihn über das Tosen des Wasserfalls hinweg verstehen.
»Es war eine schlimme Wunde, Orisian. Wir hätten nichts tun können. Vielleicht pflegen sie ihn gesund.«
Orisian starrte die Klippe an. Sie war von Spalten und Rissen durchzogen. In Wasserdampf eingehüllte Moose und Farnbüschel säumten die Kaskaden. Sonst gedieh nichts. Am Fuß der Steilwand türmten sich Felsbrocken und Geröll.
Ess’yr machte sich daran, die Fassade zu erklimmen. Sie folgte einem Riss, der neben dem Wasserfall in einer Schräglinie nach oben führte. Varryn stieg als Nächster in die Wand ein und bedeutete den Huanin, sich an seine Fersen zu heften.
Orisian und Anyara zögerten, aber Rothe sagte leise: »Los jetzt! Wir können nicht mehr zurück. Uns bleibt nichts anderes übrig, als ihnen zu vertrauen.«
In dem Augenblick, da sein Fuß keinen festen Halt mehr fand, fühlte sich Orisian völlig allein. Er war so winzig wie ein Käfer, der an einem Turm hochzukrabbeln versuchte. Sämtliche Gedanken wurden verdrängt vom Brüllen des Sarnsprungs und von der Beschaffenheit des Felsens unter seinen Fingerspitzen. Ein Sturz konnte ihn jetzt nicht mehr schrecken; die Welt war bereits in weite Ferne gerückt. Es gab nur Flächen – die raue Haut des Felsens, an den er sich klammerte, das durchscheinende Dach des Himmels – und dahinter nichts als Leere. Er hörte die Urstimme dieser Leere in seinem Kopf. Vielleicht war es der Donner der
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