Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
Wasserfälle, vielleicht auch nicht.
Der Riss verflachte. Orisian schaute auf und sah Varryn und Ess’yr weiterklettern. Er folgte ihnen, einfach nur deshalb, weil sich sein Körper wie von selbst bewegte. Die Kyrinin erklommen einen gefährlich schmalen Sims, eine Bruchkante in der Klippe. Als Orisian sich auf das Felsenband zog, tasteten sie sich gerade Schritt für Schritt seitwärts, immer näher an die Wasserfälle heran. Der Sprühnebel von den Kaskaden umwirbelte sie, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Er richtete sich auf, um ihnen zu folgen, und warf zum ersten Mal einen Blick über die Schulter zurück. Er sah das Laubdach des Dyn Hane , das sich bis in die Schlucht hinunter erstreckte. Der Wasserdampf, der sich in den Wipfeln verfing, glitzerte in der kühlen Sonne. Orisian schwankte, vom Sog der Tiefe erfasst. Langsam schob er sich an der Felswand entlang, in Richtung der beiden Kyrinin.
Ess’yr und Varryn hatten sich durch eine schmale, senkrechte Öffnung von etwa anderthalbfacher Mannshöhe gezwängt. Der Snowfluss donnerte eine Armlänge entfernt in die Tiefe.
»Hierher!«, rief eine Stimme, und Orisian zwängte sich durch den Spalt.
Die Kyrinin warteten in einer dämmrigen Kammer, die eng und bedrückend wirkte. Eine in den Fels gehauene Treppe führte steil nach oben. Ein schlechter Atem schien aus dem Rachen des Treppenschachts in die Tiefe zu wehen. Er streifte sein Gesicht mit klammen Fingern und schickte ihm feuchte Fäden in die Lungen. Seit Jahrhunderten abgestandene Luft legte sich wie ein schweres Gewicht auf Orisian.
Anyara und Rothe betraten den Raum. Varryn erklomm die Stufen, gefolgt von Ess’yr. Dann kam Orisian, der rasch die Erfahrung machte, was wahre Finsternis bedeutete. Einer ging dicht hinter dem anderen. Orisian bewegte sich wie betäubt. Undeutlich spürte er, dass seine Beine immer schwerer wurden, aber das beunruhigte ihn nicht weiter. Die Steinstufen unter seinen Füßen waren glatt und ausgetreten. Er hörte die Schritte der anderen vor und hinter sich. In dem lichtlosen Tunnel, der schwarz war wie ein Destillat der Nacht, kreisten ihm farbige Muster in den Augen. Er bekam sie nicht zu fassen, denn sie zerrannen, sobald er versuchte, sie aufmerksam zu betrachten. Und in seinem seltsam verlorenen Zustand fragte er sich, ob er, wenn er einen der flüchtigen Eindrücke festhalten könnte, den Dunklen Schlaf erblicken würde. Vielleicht erwartete der ihn am Ende des Felsenschachts, durch den er sich nach oben quälte. Er geriet ins Stolpern und wäre um ein Haar gestürzt.
»Weitergehen, Orisian!«, fauchte Rothe hinter ihm. »Weitergehen!«
Er tat den nächsten Schritt ins Dunkel, und die Muster verschwanden.
»Nicht stehen bleiben!«, rief Ess’yr von weiter oben.
Nicht stehen bleiben, dachte Orisian und kam mit schwindelerregender Plötzlichkeit zu sich. Er spürte, wie sein Herz schneller schlug und Angst in ihm aufflackerte. Er streckte die Arme aus und berührte die Wände. Der kalte Stein gab ihm Halt, sagte ihm, dass die Welt noch da war, auch wenn er sie nicht sehen konnte. Er stieg höher, Stufe um Stufe. Die Zeit dehnte sich in die Länge. Orisians Beine waren dünne Stecken, eine Ansammlung von Schmerzen. Er dachte an seinen Vater, seinen Bruder, seine Mutter und vergaß im nächsten Augenblick, was er gedacht hatte. Eine Zeit lang hatte er den Eindruck, Inurian sei neben ihm. Das Gefühl verging. Inurian war hinter ihm, das wusste er. Alle waren hinter ihm, alle außer Anyara und Rothe. Er hatte sich von allem gelöst, wie ein Boot, das sich von seinem Anlegeplatz losgerissen hatte und nun mit der Strömung in ein endlos weites Meer hinaustrieb.
Es kam ein Punkt, an dem er klar erkannte, dass er nicht mehr weiterkonnte. Er musste seinen Beinen eine Rast gönnen, abwarten, bis das Brennen in den Lungen nachgelassen hatte. Dann, ohne Vorwarnung, war es vorbei. Es gab keine Stufen mehr, und er stolperte vorwärts in einen ebenen Korridor. Ess’yr und ihr Bruder warteten, dicht nebeneinander stehend, auf Orisian und die anderen. Er sah sie. Vor ihnen ein Splitter weißen Tageslichts, der sich ihm wie ein Messer aus gleißendem Feuer in die Augen bohrte. Nun, da ihn der gleichförmige Rhythmus des Treppensteigens nicht mehr aufrecht hielt, taumelte er gegen die Wand. Seine Knie gaben nach, und er rutschte langsam auf den kalten Boden. Anyara kam und setzte sich neben ihn. Rothe blieb stehen, aber er beugte sich schwer atmend vor und umklammerte seine
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