Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
Schenkel.
Ess’yr starrte in den schwarzen Schacht, durch den sie aufgestiegen waren.
»Sie folgen nicht«, sagte sie.
»Ich denke, das war der Sinn der Sache«, keuchte Rothe.
Varryn war weitergegangen. Einen Moment lang hob er sich schwarz gegen den Ausgang ab, dann trat er ins Freie.
»Kommt her!«, rief er.
Ess’yr machte den Anfang. Mit letzter Kraft erhob sich Orisian und folgte den Kyrinin zusammen mit Anyara und Rothe nach draußen. Das Tageslicht war grell. Ein eisiger Wind blies ihnen entgegen. Sie starrten schweigend in die Landschaft, die sich vor ihnen auftat. Sie waren inmitten wüst durcheinandergeworfener Felsblöcke aufgetaucht, die den Eingang zum Treppenschacht verbargen. Vor ihnen erstreckte sich ein ödes Tal, das zwischen Felsenkämmen allmählich zum Hochgebirge hin anstieg. Die Gipfel waren in dichte Wolken gehüllt. Ein schmaler, reißender Fluss – der Snow – schnitt sich seinen Weg durch das Tal, vorbei an Felsblöcken und Büscheln von hartem Gras, auf die Kante des Wasserfalls zu, der irgendwo außer Sichtweite rauschte.
»Welche Einöde!«, murmelte Anyara.
Der Wind war scharf und trug einen Hauch von Frost mit sich, aber Orisian sog ihn tief ein, um die abgestandene, tote Luft des Treppenschachts aus den Lungen zu vertreiben. Ihm war schwindlig, und seine Haut kribbelte, als beginne das Blut erst jetzt wieder richtig im Körper zu kreisen.
Varryn spähte umher. »Wir rasten«, sagte er und deutete auf eine kleine Senke ganz in der Nähe. »Eine kleine Weile.«
Sie ließen sich auf dem Boden nieder. Orisian zupfte an den derben Grashalmen. Varryn redete leise auf Ess’yr ein. Sie entfernte sich von ihm, schlenderte langsam zum Fluss und kniete am Wasser nieder. Lange verharrte sie so. Orisian konnte die Augen nicht von ihr abwenden. Sie öffnete die Lederbänder, die ihre Kleidung zusammenhielten, und streifte das Obergewand über den Kopf. Ihr nackter Rücken war weiß und makellos, und bei jeder Bewegung zeichnete sich das geschmeidige Spiel von Muskeln und Knochen unter der Haut ab. Sie schöpfte mit beiden Händen Wasser aus dem Fluss und goss es sich über den Kopf. Es benetzte ihr Haar und lief ihr in kleinen Rinnsalen über den Rücken.
Dann beugte sie sich weit vor und tauchte zuerst das Gesicht und anschließend den ganzen Kopf in den Fluss. Orisian sah die hellen Umrisse ihrer kleinen Brüste, als sie die Wasseroberfläche berührten. Als sie sich wieder aufrichtete, warf sie den Kopf so heftig zurück, dass die Tropfen sprühten, und presste beide Hände vor das Gesicht. Lange verharrte sie in ihrer Trauer.
»Sie war seine Geliebte«, hörte er Anyara neben sich sagen.
»Ich bin weder blind noch dumm«, fauchte er.
Dann legte er den Arm um seine Schwester, beschämt über seinen Zornausbruch. Sie schmiegte den Kopf an seine Schulter. Als Ess’yr vom Fluss zurückkam, waren ihre Augen rot gerändert, aber sie wirkte geradezu unheimlich gefasst.
»Wir müssen weiter«, sagte sie.
»Ich kann nicht mehr«, erklärte Anyara.
»Trotzdem«, wisperte Ess’yr. Sie bückte sich, hob ihren kleinen Rucksack, Köcher und Bogen auf und wandte sich nach Norden, dem Ödland zu.
Orisian erhob sich. Varryn folgte seiner Schwester dicht auf den Fersen. Orisian sah den beiden nach.
»Anyara, Rothe«, sagte er dann, »hört mir zu! Was immer von jetzt an geschieht, keiner wird mehr zurückgelassen!« Er schaute sie der Reihe nach an. »Versteht ihr mich? Es hat genug Opfer gegeben. Dies ist unser Kampf, nicht der ihre.« Er deutete auf Varryn. »Wir haben die Entscheidungen zu treffen. Und ich dulde nicht mehr, dass jemand zurückgelassen wird.«
Anyara nickte, dann auch Rothe. Orisian las eine Spur von Erstaunen in den Augen seiner Schwester. Ich bin wohl nicht mehr ganz der Bruder, den sie kannte, dachte er. Aber ich bin auch nicht mehr der, den ich selbst kannte.
»Nun gut, gehen wir«, sagte er.
»Füllt zuvor eure Wasserschläuche!«, warf Rothe ein.
Das Wasser des Snowflusses war eiskalt.
Sie wanderten über Grasbüschel und Heidekraut stetig bergan und hielten sich dabei so nahe wie möglich am Fluss. Manchmal waren sie für eine kurze Strecke gezwungen, einen Bogen um sumpfiges Gelände zu machen, aber immer kehrten sie zu dem wild dahinschießenden Wasser zurück. Es regnete ein wenig. Es wurde rasch kälter, und der Regen verwandelte sich in wässrigen Schnee. Weiße Flocken legten sich auf die Kleidung, schmolzen aber im Nu. Die Seitenwände des Tals
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