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Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Titel: Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Ruckley
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ließen kaum Licht eindringen. Varryn zwängte sich als Letzter in die Öffnung.
    »Das ist ein Albtraum«, flüsterte Anyara.
    Es war die längste Nacht, die Orisian je erlebt hatte. Die fünf Flüchtlinge verharrten eingekeilt in ihrer engen Nische, ab und zu erschaudernd in der eisigen Kälte, die erst gegen Morgen ein wenig nachließ. Ess’yr hatte jedoch recht behalten. Die Wärme der aneinandergepressten Körper vertrieb den tödlichen Frost. In den sich endlos hinziehenden Stunden schmiegten sich ihre Schulter, ihre Hüfte und ihr ausgestreckter Oberschenkel an ihn. Ein- oder zweimal glaubte er die Wärme ihres lautlosen Atems an seiner Wange zu spüren, und obwohl er nichts sah, stellte er sich vor, dass er nur den Kopf schräg halten musste, um ihr Gesicht zu berühren.
    Es schien eine Ewigkeit zu dauern, ehe das erste diffuse Licht durch die Wolken sickerte. Orisian stolperte ins Freie und stöhnte über die Schmerzen in seinen steifen Gelenken. Der Sturm hatte sich gelegt. Flache graue Wolkenbänke verbargen nun die höheren Gipfel, aber er erahnte ihre stumpfe, lauernde Masse jenseits des Schleiers. Er knetete und rieb seine Beine mit starren Fingern und humpelte umher wie ein alter Mann. Die anderen sahen ebenso erschöpft und zerschlagen aus, wie er sich fühlte, mit Ausnahme von Varryn, der frisch und ausgeruht wirkte, als hätte er behaglich geschlafen.
    »Wie weit noch?«, erkundigte sich Orisian.
    »Einige Stunden Fußmarsch«, entgegnete Varryn.

    Am zweiten Tag meinte es das Wetter etwas besser mit ihnen. Der Wind hatte sich fast gelegt. Allerdings mussten sie gegen feuchte Wolkenbänke ankämpfen, die gelegentlich über die Hänge zogen. In solchen Augenblicken betrug ihre Sicht nicht mehr als zwanzig oder dreißig Schritte.
    Umschlossen von Nebelschwaden, die alle Geräusche schluckten und das Blickfeld einengten, kam Orisian die Bedrohung des unbekannten Geländes noch stärker zu Bewusstsein als zuvor. Von seinen Landsleuten wagte sich kaum jemand in diese Gegend, und nur Verrückte wären um diese Jahreszeit bis in die hoch gelegenen Felsregionen des Car Criagar geklettert. Die abweisende Gebirgskette galt nicht nur selbst als gefährlich, sondern auch wegen der Kyrinin, die durch ihre Wälder streiften, und der großen Bären, die in ihrer tiefsten Wildnis hausten. Und dann waren da noch die Ruinen – Überreste großer Städte aus der Zeit, da die Götter noch über die Welt gewacht hatten. Es gab Geschichten über Abenteurer, die ausgezogen waren, um Schätze aus jenen vergangenen Tagen zu suchen, und die ausnahmslos den Tod gefunden hatten. Manchmal hatten die Berge sie umgebracht, manchmal die wilden Tiere und manchmal Fallgruben oder einstürzende Mauern in den verfallenen Städten.
    Orisian konnte nicht sagen, welche Strecke sie an jenem Tag zurückgelegt hatten. Am Nachmittag wandte sich das Wetter gegen sie. Der Wind kehrte zurück, und was als leichter Flockenwirbel begann, wuchs sich zu einem heftigen Schneesturm aus, der sie zu verschlingen drohte. Sie kamen über eine Kuppe und blieben auf dem Kamm stehen. Der Wind zerrte an ihren Kleidern und riss ihnen den Atem weg. Schnee peitschte ihnen entgegen. Orisian erschauderte und senkte den Kopf.
    »Da!«, rief Ess’yr über das Orgeln des Sturms hinweg.
    In der Tiefe lag, auf einer weiten Ebene ausgebreitet, eine Stadt. An einer Seite ragte eine riesige Klippe auf, die sich hoch droben im Schneegestöber verlor. Von ihrem Fuß aus erstreckte sich ein Gewirr halb zerstörter Mauern, Straßen und Häuser über das flache Gelände – Criagar Vyne. Verfallen und heruntergekommen, eingezwängt zwischen den Bergen und dem Sturmhimmel, vermittelte die Stadt den Eindruck, als sei das Urgestein der Welt nach oben durchgebrochen, eine zerklüftete Erinnerung an den Beginn der Zeit. Es war ein so trostloser Anblick, dass Orisian kaltes Entsetzen in sich aufsteigen fühlte.
    »Wer könnte an einem solchen Ort leben?«, schrie Rothe über den Wind hinweg.
    »Huanin, früher«, entgegnete Ess’yr. »Eine Na’kyrim , heute.«
    Varryn war bereits losgegangen und hielt auf die Ruinen zu. Ess’yr folgte ihm. Anyara warf Orisian einen unsicheren Blick zu.
    »Hier finden wir zumindest Schutz vor dem Unwetter«, erklärte Orisian und schirmte mit der Hand die Augen gegen den Schnee ab, der wie mit Nadeln stach.

    Highfast. Geduckt auf einer schroffen Klippe kauernd, durch die jäh abfallenden Felswände ebenso geschützt wie durch ihre mächtigen

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