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Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Titel: Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Ruckley
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Mauern, war die Hohe Feste ein uneinnehmbares Bollwerk, das die Herrscher von Aygll dem Haus Kilkry hinterlassen hatten. Marain, der Steinmetz, hatte sie errichtet und sich damit bleibenden Ruhm erworben, sodass sein Name am Ende den des königlichen Auftraggebers überdauerte. Aufgabe der Festung, deren Bau ein ganzes Jahrzehnt in Anspruch genommen und mehr als hundert Menschenleben auf den Steilhängen und schmalen Pfaden der Karkyre-Berge gefordert hatte, war die Verteidigung einer alten Straße gewesen. Aber seit jener Zeit hatte der Strom der Geschichte seinen Lauf geändert. Die Straße wurde während der Sturmjahre, die dem Untergang des Königreichs folgten, nicht mehr benutzt. Highfast, inmitten der wilden Einsamkeit der Berge gelegen, geriet in Vergessenheit. In ihrem langen Dasein hatte es oftmals Blutvergießen im Schatten des hohen Schutzwalls gegeben, aber nun war die Feste ein Ort des Friedens für jene, die sie bewohnten.
    Die Klippe, auf der Highfast thronte, diente nicht nur als Fundament für die Mauern und Türme. Marains Arbeiterheere hatten sich bis in die Eingeweide des Felsens gewühlt und ein Gewirr von Kammern und Stollen angelegt. An Steilstücken, die jedem Angrff standhielten, gab es Durchbrüche ins Freie, Fenster und schwindelerregende Plattformen mit Aussicht auf eine tiefe Schlucht. Durch diese Öffnungen im Fels fiel nicht nur etwas Licht ein, sondern auch der Wind, der unentwegt um die Gipfel strich. Manchmal hallte das Labyrinth der Gänge vom Rauschen der einströmenden Luft wider, als führe es in die Lungen eines tief atmenden Riesen.
    Cerys, die Auserwählte, empfand dieses dumpfe Geräusch, das selbst ihre Na’kyrim -Ohren nur unterschwellig wahrnahmen, in der Regel als tröstlich. Sie lebte nun seit fünfzig Jahren innerhalb der Mauern von Highfast und kannte jede Stimmung der Feste. Ihre Beständigkeit und Vertrautheit gaben ihr Halt. In ihrem Schoß fühlte sie sich sicher und geborgen.
    Nun stand sie auf einem der hohen Balkone und schaute hinab auf die Schreiberhalle, die an eine riesige Höhle erinnerte. Unter dem Licht, das durch hohe, schmale Fenster hereinsickerte, beugte sich ein Dutzend Na’kyrim über Manuskripte und Bücher, die sie transkribierten, kopierten oder restaurierten. Man hörte nichts außer dem Stöhnen des Winds, dem Kratzen der Federkiele und hin und wieder einem spröden Seufzer, wenn eine Seite umgeblättert wurde. In vergangenen Jahren hätte diese Szene mit ihrem nahtlosen Ineinanderfließen von Stille und Fleiß jeglicher Unruhe in ihrem Herzen den Stachel genommen.
    Heute aber hatte Cerys Mühe, ihre Gedanken zu beschwichtigen, und darin war sie nicht allein. Das hatte sie in den Mienen einiger anderer gelesen, vor allem jener, die besonders tief in der Gemeinschaft des Geistes verwurzelt waren. In ihren Augen spiegelte sich die schmerzhafte Unsicherheit, die sie selbst in ihrem Innern spürte. Der Samen dieser Unsicherheit war gestern aufgekeimt: Urplötzlich und ohne jeden Zweifel hatte sie erkannt, dass einer aus der Gemeinschaft, einer der Erweckten, nur noch in der Erinnerung der anderen weiterlebte. Und obwohl sie nicht sicher sein konnte, noch nicht, glaubte sie zu wissen, wer es war. Sie strich das Gefieder der großen schwarzen Krähe glatt, die auf dem Balkongeländer kauerte.
    »Sag du mir, dass es nicht stimmt, meine Süße«, murmelte sie dem Vogel zu, der sie mit seinen glänzenden Knopfaugen aufmerksam ansah. »Nein, ich sehe schon, das kannst du nicht«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu.
    Der Bote, ein hagerer, hoch aufgeschossener Na’kyrim , der ständig die Hände aneinanderrieb, als müsse er sie von Tusche säubern, fand sie dort oben, gedankenverloren über die gebeugten Rücken hinwegstarrend.
    »Auserwählte«, wisperte er, als befürchte er, die Konzentration der Schreiber zu stören, »der Träumer spricht.«
    Seit dreißig Jahren lag Tyn of Kilvale, der Träumer, in einer Kammer hoch droben im Großen Wohnturm von Highfast. Junge Na’kyrim pflegten ihn, versorgten die wund gelegenen Stellen, drehten ihn um und säuberten ihn. Oft war es die erste Aufgabe, die man den Neuankömmlingen in Highfast zuwies, um ihnen Geduld und Ergebenheit beizubringen. Und die rechte Ehrfurcht vor dem Gemeinsamen Ort, denn Tyns Schlaf war nichts anderes als eine allmähliche Abkehr vom Diesseits, ein Hinübergleiten in die unendlichen Tiefen jenes schwer fassbaren Zwischenreichs des Geistes. Der Träumer träumte auf seine ganz

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