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Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Titel: Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Ruckley
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besondere Art.
    Es gab noch andere, die sich in ganz besonderer Weise um ihn kümmerten. Rund um die Uhr wechselten sie sich am Lager des träumenden Na’kyrim ab und warteten. In seinem Schlaf, der ihn immer tiefer umfangen hielt, wanderte er auf Pfaden, die den Bewohnern der realen Welt unbekannt waren, und mitunter drang etwas von dem, was er dort fand, bruchstückhaft über seine spröden, aufgesprungenen Lippen. Das waren die Worte, auf die seine Wächter warteten, denn sie kamen aus den tiefsten, fernsten Bereichen des Gemeinsamen Ortes: Schätze aus einer anderen Welt, als Treibgut an den Strand seiner Schlafkammer gespült. Die Jahre verstrichen, und er sprach immer weniger. Inzwischen tauchte der Träumer nur noch selten aus seinem Tiefschlaf auf, um den einen oder anderen Satzfetzen zu stammeln.
    Cerys zeigte sich nicht erstaunt, dass dies gerade jetzt geschah. Inurian hatte in seinen jüngeren Jahren viele Stunden am Bett des Träumers verbracht. Sie folgte dem Boten die Wendeltreppe hinauf zu Tyns Kammer. Eine dunkle Ahnung verkrampfte ihr den Magen. Es würde ihr nur Schmerzen bereiten, wenn sich ihre Ängste bestätigten.
    Zu ihrer Erleichterung fand sie Tyn tief schlafend wie immer vor. Seine Pfleger taten ihr Bestes, um seine äußere Erscheinung zu erhalten. Wer ihn zum ersten Mal zu Gesicht bekam und nichts über seine Vergangenheit oder Zukunft wusste, konnte den Eindruck gewinnen, dass er vor einem alten Mann stand, der eben erst eingenickt war. Nur wer ihn besser kannte, sah die Spuren seiner allmählichen Loslösung aus dieser Welt. Seine Haut spannte sich wie eine feine Elfenbeinschicht über die Gesichtsknochen. Das spärliche Silberhaar lag schlaff wie das eingesackte Netz einer toten Spinne auf dem Kissen. Die schwachen Wellenlinien der Bettdecke deutete auf einen ausgemergelten Körper hin.
    Es war nicht das Alter, das diese Veränderungen bewirkt hatte. Der Träumer zählte siebzig Jahre – nicht allzu viel für einen Na’kyrim . Aber das Reich des Geistes zog ihn immer weiter fort von der Hülle seines Leibes, und Tag um Tag häutete er sich wie eine Schlange. Ab und an kam Amonyn und legte Tyn die Hände auf, in dem Bemühen, dem langsamen Verfall des Fleischs Einhalt zu gebieten. Obwohl der Heiler danach stets völlig erschöpft war, zeigten die Sitzungen selten eine größere Wirkung. Nur in Dyrkyrnon oder im dunklen Herzen von Adravane gab es vielleicht einen Na’kyrim , der Amonyns Heilkräfte noch übertraf, aber gegen die Kraft, die Tyn verzehrte, war er machtlos. Tyns Wesen hatte jegliche Anteilnahme an der Welt aufgegeben, in der sein Leib schlief, und diese Gleichgültigkeit machte es selbst Amonyn fast unmöglich, ihn zurückzuholen.
    Ein Schreiber saß neben dem Bett und blätterte in seinen Aufzeichnungen. Als die Auserwählte eintrat, erhob er sich. Er schien sehnlichst darauf zu warten, dass ihn jemand ablöste.
    »Auserwählte«, flüsterte er, »ich denke, dass ich alles notiert habe, aber er sprach nur kurz … und so schnell.«
    »Worüber?« Cerys beugte sich über die zerbrechliche Gestalt. Unter durchscheinenden Lidern rollten Tyns Augen umher wie Käfer, die aufgeregt unter einem Seidentuch krabbelten. Welche Szenen sich wohl seinem Blick darbieten?, dachte sie. Weiß er überhaupt noch, dass es uns hier im Diesseits gibt?
    »W-wirres Zeug, Auserwählte«, stotterte der Schreiber. »Ihr versteht vielleicht besser als ich, was er meinte …«
    Er hielt ihr die Pergamentblätter entgegen. Cerys nahm sie, ohne einen Blick darauf zu werfen.
    »Das Wesentliche?«, beharrte sie freundlich.
    »Er hat von Inurian gesprochen, glaube ich. Vielleicht … vielleicht von seinem Tod, Auserwählte. Von seinem Tod. Aber noch von etwas anderem … von jemand anderem. Von einem Mann. Obwohl der Träumer ihn eine Bestie nannte: eine Bestie mit einem schwarzen Herz, losgelassen im Reich des Geistes.«
    Cerys nickte. Es war, wie sie erwartet hatte. Tyns Worte hatten selten eine klare Bedeutung – wie konnten sie auch, nachdem sie einen so weiten Weg durch so fremdartige Räume zurückgelegt hatten –, aber diese Botschaft war verständlich genug und passte zu den Nachrichten, die die Gemeinschaft auch ihr zugeraunt hatte. Inurian weilte also nicht mehr unter den Lebenden. Sie war bestimmt nicht die Einzige in Highfast, die ihn schmerzlich vermissen würde. Aber dieser andere Mann? Was bedeutete der zweite Teil der Botschaft? Cerys hatte das instinktive Gefühl, dass sich

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