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Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Titel: Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Ruckley
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Veränderungen anbahnten – und dass es stürmische Veränderungen sein könnten. Ein wacher Na’kyrim hörte in der Regel auf seine Instinkte.
    Mit sorgenvoll gerunzelter Stirn machte sie sich auf die Suche nach Olyn. Seit Inurian Highfast verlassen hatte, wandte sie sich immer an den Hüter der Krähen, wenn es um Belange ging, die aus der Tiefe des Gemeinsamen Ortes kamen.

    Beim Näherkommen entdeckten Orisian und die anderen immer mehr Einzelheiten. Die meisten Ruinen waren bestenfalls mannshoch. An manchen Stellen bestand die Stadt nur noch aus einem Gewirr eingestürzter Mauern, mit Nischen und Winkeln, in denen sich Schnee sammelte. Aber hier und da tauchten die groben Umrisse von Gebäuden, Türen und Zimmern aus dem Schutt auf. Durch eine klaffende Lücke im zerstörten äußeren Wall drangen sie in die toten Straßen vor. Sofort legte sich der Wind ein wenig. Orisian blies die Backen auf und rieb sich kräftig das Gesicht. Seine Haut war völlig gefühllos. Rothe strich mit einer Hand über einen mächtigen Steinquader, dessen dunkle Flächen mit Flechten bedeckt waren, und wandte sich zu Orisian um.
    »Das müssen einst Prachtbauten gewesen sein«, sagte er.
    Sie suchten sich ihren Weg durch das Gerippe der Stadt, so vorsichtig, als träten sie auf die Gebeine der einstigen Bewohner. Ess’yr und Varryn wirkten angespannt wie Wild, das den Jäger wittert, ohne ihn zu sehen. Instinktiv bewegten sich alle ein wenig geduckt vorwärts, um sich nicht gegen den Horizont abzuheben. Über ihnen heulte der Wind. Der Tag ging allmählich zur Neige, und der Gedanke, dass die Nacht schon bald ihre Schwärze über die Ruinen breiten würde, versetzte sie in Unruhe.
    Ein freier Platz öffnete sich vor ihnen. Der Wind hatte hier hohe Schneewehen aufgetürmt. Sie hielten inne, und Orisians Blicke wanderten von einem zum anderen. Es erleichterte ihn ein wenig, dass er sich nicht als Einziger unbehaglich fühlte. Fern von ihren schützenden Wäldern waren selbst Ess’yr und Varryn beunruhigt. Die beiden steckten die Köpfe zusammen und unterhielten sich leise und stockend.
    »Wir könnten hier stundenlang umherwandern«, meinte Rothe. »Ich schlage vor, dass wir einen sicheren Unterschlupf für die Nacht suchen.«
    »Einverstanden«, sagte Varryn.
    In der Ecke eines verfallenen Häuschens fanden sie einen wind- und schneegeschützten Platz. Sie aßen einige Streifen Dörrfleisch und tranken etwas Wasser aus den mittlerweile fast leeren Schläuchen. Dann rückten sie eng zusammen, alle bis auf Varryn. Der Kyrinin-Krieger setzte sich aufrecht hin, den Rücken gegen die Mauer gelehnt.
    »Ich übernehme die erste Wache«, sagte Rothe zu ihm. Im ersten Augenblick schien es, als habe Varryn ihn nicht verstanden, aber dann nickte er kaum merklich.
    Orisian, der sich eng an seine Schwester geschmiegt hatte, spürte, wie ihre Finger nach den seinen tasteten. Er wusste nicht, ob sie ihm Trost spenden wollte oder selbst Trost suchte, aber er ließ ihre Hand nicht mehr los. Hunger nagte in seinen Eingeweiden, und die Hoffnung auf Schlaf war gering, als er die Augen schloss.
    Unvermittelt hatte er wieder das Bild von Ess’yrs weißem Rücken vor Augen. Er bewegte sich unruhig. Dann sah er Inurian vor sich, allein auf der Lichtung, wo sie ihn verlassen hatten. Orisian war dabei gewesen, als seine Mutter starb. Er hatte mit angesehen, wie sie die Lippen öffnete, wie sie zum letzten Mal rasselnd ausatmete und wie aus ihren Augen von einem Lidschlag zum nächsten der unbestimmte Glanz des Lebens wich. Er stellte sich vor, wie das Licht in Inurians schiefergrauen Augen erlosch. Ohne es zu merken, umklammerte er Anyaras Hand fester.
    »Schlaf!«, wisperte sie.
    Er hätte nichts lieber getan, als ihrem Ratschlag Folge zu leisten.
    Im Dunkel jener Nacht seufzte der Wind unentwegt durch die Ruinen der Stadt. Nach einiger Zeit hörte es zu schneien auf. Die Stunden verstrichen, und es wurde immer kälter. Orisian hörte, wie Varryn aufstand und Rothe als Wächter ablöste. Die beiden wechselten kein Wort.

    Der Morgen setzte sich nur mühsam gegen die Wolken und Nebelschwaden durch und verbreitete ein stumpfes, wässriges Licht. Der Wind hatte sich gelegt, aber der Himmel war ein grauer Ozean, der mit der dünnen Schneedecke auf den Gipfeln und Hängen verschmolz. Die Klippen im Westen ragten über die Stadt auf und bewachten ihre Totenruhe, so wie sie einst das wimmelnde Leben in ihren Straßen bewacht hatten. Die fünf Wanderer hätten

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