Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
klobigen Fingern seine linke Wade.
»Wie lange soll das noch so weitergehen?«, fragte er, ohne jemanden anzusehen. »Wir können ewig durch diese Ruinen streifen, ohne diese Frau zu entdecken. Warum machen wir kein Feuer oder rufen, wie Anyara vorgeschlagen hat, um ihre Aufmerksamkeit auf uns zu lenken?«
Varryn, der ein wenig abseits von den anderen saß, stieß ein leises Schnauben aus und fuhr sich durchs Haar, aber er schwieg.
»Varryn sprach Wahrheit«, entgegnete Ess’yr. »Feind kann noch auf unseren Fersen sein. Und wenn wir Lärm machen, geht diese Frau vielleicht fort. Füchse sagen, sie ist verrückt. Sie will keine Besucher haben.«
»Es macht wenig Unterschied, ob sie flüchtet oder sich versteckt«, sagte Rothe. »So oder so sind wir vermutlich alle zu Eis erstarrt, bis wir sie finden.«
»Der Junge und das Mädchen werden hier nicht sterben. Ich habe geschworen.«
»Du hast geschworen?«, fauchte Rothe ungläubig. »Du hast geschworen? Ich stehe mit meinem Leben für Orisian ein. Weder er noch Anyara benötigen den Schutz von Waldelfen …«
»Jetzt reicht es«, unterbrach ihn Orisian und breitete die Arme aus. »Ich bin sicher, Ess’yr wollte dich nicht kränken, Rothe. Und, Ess’yr, ich weiß nicht, was du …«
Er sah, dass keiner der Kyrinin auf seine Worte achtete. Beide hatten die Köpfe gehoben. Ihre Gesichter waren maskenhaft starr.
»Was ist?«, fragte Anyara, aber Varryn brachte sie mit einem grimmigen Blick zum Schweigen. Sein Gesichtsausdruck unter dem feinen Netz der Tätowierungen wirkte ernst und angespannt.
Ess’yr legte eine Hand auf den Arm ihres Bruders.
»Geräusch«, wisperte sie.
Rothe ging sprungbereit in die Hocke und umklammerte das Heft seines Schwerts. Orisian tastete mit kältestarren Fingern nach dem Dolch am Gürtel.
»Wo?«, zischte Rothe.
»Kommt näher«, gab Ess’yr leise zur Antwort.
Anyara verlagerte ihr Gewicht auf die Zehenballen. Varryn wandte sich halb um und übermittelte seiner Schwester mit Gesten eine kurze Botschaft. Ess’yr nickte und nahm ihren Speer auf. Varryn richtete sich halb auf, zog den Kopf aber sofort wieder ein und zischte durch die Zähne.
Eine Gestalt tauchte hinter den eingestürzten Resten einer Mauer auf. Es war eine Frau, in Felle gekleidet und das Gesicht unter einer Pelzkapuze verborgen. Sie blieb stehen und musterte die Gruppe.
»Ihr seid laut«, sagte sie. Ihre Stimme klang rau und hart, als habe sich der Frost der Berge darin festgebissen und sie zerspringen lassen wie die Steine dieser untergegangenen Stadt. Dennoch entdeckte Orisian eine Spur des singenden Tonfalls darin, den er von Inurian kannte. Na’kyrim , dachte er.
Ess’yr stellte eine vorsichtige Frage in ihrer Sprache. Die Frau gab eine kurz angebundene Antwort.
»Yvane«, sagte Ess’yr, und in ihrer sonst so ruhigen Stimme schwang Erleichterung mit.
»Laut und dumm, dass ihr bei diesem Wetter im Freien lagert«, tadelte Yvane, die mit Leichtigkeit zwischen der Sprache der Kyrinin und Huanin wechselte.
»Inurian riet uns, Euch hier aufzusuchen«, erklärte Orisian. »Er sagte, Ihr würdet uns helfen.«
Die alte Na’kyrim fixierte ihn mit einem so zornigen Blick, dass er schon fürchtete, es sei ein schrecklicher Fehler gewesen, hierherzukommen. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und schritt von dannen.
»Dann kommt«, knurrte sie. »Ich kann euch Essen und ein Feuer anbieten. Aber glaubt ja nicht, ich gewähre euch mehr als jedem anderen in Not geratenen Wanderer.«
III
Nyve, der Erste der Krieger-Inkall, hatte nur ein Ohr. Eine wulstige Narbe mit einem Loch in der Mitte markierte die Stelle, wo sich das andere befunden hatte. Jeder Inkallim kannte die Geschichte. In seiner Jugend, kurz nach der Aufnahme in die untersten Ränge der Krieger-Inkall, hatte er als einer von fünfen den Auftrag erhalten, eine Gruppe von Barden-Inkall zu bewachen, die von Kan Dredar nach Effen unterwegs waren, einer fernen Stadt im Herrschaftsgebiet des Hauses Wyn-Gyre. Mitten in der zerklüfteten Gegend östlich von Effen waren sie auf einen großen Trupp von Tarbain-Jägern gestoßen – Wilde, noch nicht unter dem Joch der Gyre-Geschlechter und noch nicht zum wahren Glauben bekehrt. Die Tarbain griffen an, vermutlich ohne zu wissen, mit welcher Art von Kämpfern sie es zu tun bekamen. Sie hatten viele Jagdhunde bei sich, und einer davon biss Nyve das Ohr ab, ehe ihm der junge Mann das Genick brach. Nur Nyve und zwei Barden-Inkallim überlebten, umgeben von
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