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Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Titel: Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Ruckley
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scharf nach neuen Niederschlägen. Von seiner Sänfte aus konnte Theor über die bewaldeten Hänge hinweg bis nach Kan Dredar sehen. Die Residenz von Ragnor oc Gyre breitete sich in der Ebene aus, ein schwarzbraunes, nahezu formloses Gewirr von Holzhütten, die sich um die wenigen Steingebäude der Stadt scharten – die Kasernen der Stadtwache, die Markthalle und die Festung des Hoch-Thans. Es war ein friedliches Bild. Theor hatte die Erfahrung gemacht, dass Städte aus der Ferne betrachtet am besten aussahen; bei näherem Hinsehen offenbarten sie in der Regel Schmutz und Gier. Wie immer schwebten Bussarde und Milane in trägen Spiralen über der Stadt. Theor beobachtete, wie die Vögel Kan Dredar unter sich aufteilten und die Gassen umkreisten, die zu ihrem jeweiligen Revier gehörten.
    Ein helles kleines Bündel neben dem Weg erregten seine Aufmerksamkeit. Theor erspähte ein Stück fleckige graue Haut. Ein Neugeborenes also. Manche Familien setzten ihre Kinder in den Wäldern oder Bergen aus, wenn sie schwach oder verkrüppelt auf die Welt kamen. Die Hoch-Thane hatten diese Unsitte schon vor langer Zeit verboten, da nur Zehntausend vom Geblüt Gyre den langen Marsch in den Norden geschafft hatten und jeder potenzielle Krieger zu kostbar war, als dass man sein Leben aufs Spiel setzen durfte. Aber manche Gläubigen sahen in dieser Praxis eine Art Gottesurteil. Aller Voraussicht nach kehrte die Mutter nach ein oder zwei Tagen zurück, und wenn der Gott des Letzten Buchs den Säugling verschont hatte, wurde er von der Familie aufgenommen und versorgt, so gut es ging. Der Pfad dieses Kindes war allerdings zu Ende, ehe er richtig begonnen hatte.
    Theor lehnte sich in seiner Sänfte zurück. Er musste vorsichtig zu Werke gehen, wenn er seine Zweifel bezüglich Ragnor oc Gyre äußerte. Vor allem musste er Nyve und Avenn auf seine Seite bringen. Die Krieger- und die Jäger-Inkall unterstanden der sehr viel älteren Barden-Inkall, aber das bedeutete nicht, dass sie seiner Führung blind folgen würden; Einigkeit unter den Inkallim war wichtig, wenn es das Gyre-Geschlecht an Willenskraft fehlen ließ. In solchen Zeiten – und es hatte sie bereits ein oder zweimal zuvor in den anderthalb Jahrhunderten des Exils jenseits des Tan Dihrin gegeben – lag es an den Inkallim, die Zügel fest in der Hand zu behalten.
    Sie hatten zwei Drittel des Weges zum Gebäudekomplex der Barden zurückgelegt, als seine Begleiter ihre Schritte verlangsamten. Sie warteten auf einen Läufer, der hastig durch den Schlamm gestapft kam.
    »Ein Junge«, sagte einer der Sänftenträger. »Allem Anschein nach ein Novize der Krieger-Inkall.«
    Theor wartete mit verschränkten Armen. Er hatte die Hände in die Achselhöhlen geschoben, um sie gegen die Kälte zu schützen.
    Er erkannte den jungen Läufer sofort. Es war Calum, der Vetter von Lakkan oc Gaven-Gyre. Das bedeutete, dass er eine Botschaft von Nyve persönlich brachte. Er atmete schwer. Seine Wangen waren gerötet und seine Kleider mit Schlamm verspritzt.
    »Erster«, stieß er aufgeregt hervor. »Erster – Meister Nyve schickt mich. Er wollte, dass ich Euch, wenn möglich, noch unterwegs einhole, damit Ihr den Barden die Neuigkeit selbst überbringen könnt.«
    »Nun, das ist dir gelungen, mein Junge.«
    »Ein Botenvogel kam kurz nach Eurem Aufbruch herein. Anduran ist gefallen, Erster. Stadt und Burg befinden sich in Händen des Hauses Horin-Gyre.«
    Theor war bemüht, sich seine Verblüffung nicht anmerken zu lassen.
    »Und Meister Nyve lässt ausrichten, dass …« Calum runzelte die Stirn und grübelte kurz. »Er lässt ausrichten, dass er nun doch nicht so lange nachdenken will.« Er schien erleichtert, dass ihm der Wortlaut der Botschaft nicht entfallen war. »Das ist ein großer Tag, nicht wahr, Erster? Der Gott des Letzten Buchs lächelt auf uns herab.«
    »In der Tat«, erwiderte Theor. »Du kannst deinem Meister bestellen, dass ich seine Freude teile. Und sieh zu, dass du den Rückweg noch schneller bewältigst als den Hinweg.«
    Calum verneigte sich kurz und rannte los. Theor schaute ihm nach. Er sah, wie der Junge ausrutschte und der Länge nach in den hoch aufspritzenden Schmutz fiel. Unverdrossen rappelte er sich hoch, wischte den Schlamm aus den Haaren und lief in langen Sprüngen den Berghang hinunter.
    Während die Sänftenträger ihren Weg fortsetzten, zerbrach sich Theor den Kopf über die unerwartete Neuigkeit. Die Dinge entwickelten sich schneller und dramatischer, als er

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