Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
ganze Geschichte ausgeheckt wurde.«
Theor nickte. Ihm war der gleiche Gedanke gekommen, als er von den Ereignissen im Tal des Glas gehört hatte. »Wir glaubten, wir hätten ihn gründlich genug beobachtet. Die Jäger ließen ihn selten aus den Augen. Er sprach im Schlaf, grübelte allein vor sich hin; ihrem Urteil zufolge waren seine Triebkräfte Bitterkeit und naive Wünsche. Aber wenn die Schleiereulen tatsächlich nach seiner Pfeife tanzen, haben wir ihn vielleicht unterschätzt.«
»Vielleicht. Die Vorsehung scheint Kanin und seinem Abenteuer in mehr als einer Hinsicht wohlgesinnt zu sein. Shraeve hält inzwischen so ziemlich alles für denkbar.«
»Ja. Ich deute ihren letzten Bericht ähnlich.« Theors Tonfall enthielt eine Spur von Zweifel.
»Ihr teilt diese Einschätzung nicht?«, fragte Nyve.
»Ihr etwa?«
Der Erste der Krieger-Inkall lächelte. Seine Zähne waren vergilbt und abgeschliffen. »Vielleicht sollte ich noch etwas Narqan kommen lassen, alter Freund, wenn Ihr darauf aus seid, Näheres über diese Dinge zu erfahren.«
Theor hob mit gespieltem Entsetzen die Hände. »Ihr müsst mir nicht drohen.«
»Shraeve hat uns seit ihrem Eintritt hervorragende Dienste geleistet«, sagte Nyve. »Aber in meinem alten Kadaver steckt nicht mehr genügend Energie, um diese Frau aufzuhalten. Sobald sie Wind davon bekam, was Horin-Gyre plante, gab es für sie kein Halten mehr. Sie gehört nicht zu den Leuten, die sich von Schwierigkeiten abschrecken lassen. Zähigkeit und eiserner Kampfeswille zeichnen sie aus. So sei es.«
»So sei es«, wiederholte Theor und nickte. Er wusste, dass ein einziges leises Nein von Nyve verhindert hätte, dass Shraeve sich in den Süden begab, um Kolglas einzunehmen. Aber es hatte gute Gründe dafür gegeben, ihr freie Hand zu lassen: Zum einen war es lange her, seit sich die Krieger-Inkall mit den alten Feinden jenseits des Tals der Steine im Kampf gemessen hatten. Und zum anderen hatte es Nyve für wünschenswert gehalten, zuverlässige Berichte über das Kriegsgeschehen und das seltsame Bündnis zwischen Horin-Gyre und den Schleiereulen zu erhalten.
Nyve seufzte. »Aber es wird nicht reichen, dass Kanin das Glück wie bisher ein wenig um die Knöchel schwappt. Da muss schon eine gewaltige Flutwelle kommen und ihn mitreißen, wenn er seinen Vorstoß siegreich beenden will.«
»Diese Ansicht vertritt auch der Hoch-Than. Ich sprach mit ihm, als Angain zu Grabe getragen wurde. Er war wortkarg wie immer, ließ jedoch deutlich erkennen, dass er nicht die Absicht hat, sich für das Haus Horin-Gyre zu überanstrengen.«
Nyve rieb mit den Fingerknöcheln über das Narbengewebe am Kopf.
»Juckt immer noch«, murrte er. »Man möchte meinen, dass nach all den Jahren …« Er führte den Gedanken nicht zu Ende, sondern sah Theor erwartungsvoll an. Sie kannten sich so lange, dass sie beide wussten, wann der Zeitpunkt gekommen war, das eigentliche Thema anzuschneiden.
»Es beunruhigt mich«, sagte Theor fast beiläufig, »dass unsere vorsichtigen Bemühungen, die Bande zwischen dem Gyre-Geschlecht und den Inkallim zu festigen, in den letzten Jahren kaum Früchte trugen.«
Die Tür öffnete sich, und der junge Callum brachte ein Tablett mit Speisen.
»Nicht jetzt«, flüsterte Nyve, ohne sich umzudrehen. Sobald sie wieder allein waren, presste er die Lippen aufeinander. »Gehe ich recht in der Annahme, dass Ihr inzwischen etwas deutlichere Worte für angebracht haltet?«, fragte er leise.
Theor antwortete mit einem leichten Achselzucken. »Vielleicht werde ich im Herbst meiner Jahre argwöhnisch und mutlos. Oder ich hänge zu sehr an der Vergangenheit. Als Ragnors Vater noch an der Macht war, wählte er nicht einmal die Farbe seiner Bettwäsche aus, ohne uns um Rat zu fragen.«
»Das ist wahr. Manchmal fand ich das ausgesprochen lästig, aber es war uns allen nützlich.«
»Natürlich.« Theors Stimme klang jetzt etwas fester. »Die Religion erfordert eine starke Hand, die sie stützt, eine mächtige Säule, die das Dach trägt, unter dem alle Zuflucht finden können. Sie braucht das Gyre-Geschlecht. Aber vielleicht vergisst Ragnor – was sein Vater nie tat –, dass das Gyre-Geschlecht auch die Religion braucht.«
»Ihr zweifelt an seinem Glaubenseifer«, stellte Nyve fest.
»Ich befürchte, dass er die Lage nicht … aufmerksam genug verfolgt. Sosehr sein Vater das Haus Horin-Gyre verabscheute, er hätte weit mehr Anteil an Kanins Eroberungen genommen, als es Ragnor zu tun
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