Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
Kunst des Messerwerfens, aber die Waffe fand ihr Ziel und blieb hoch in der Brust des Inkallim stecken.
Rothe streckte Anyara den unversehrten Arm entgegen.
»Gebt mir Euren Stock!«, verlangte er.
Sie kam seiner Aufforderung schweigend nach. Der Inkallim wollte ebenfalls seine Schlagwaffe heben, aber die Kräfte hatten ihn verlassen. Taumelnd stand er da, als Rothe den Stock auf seine Schläfe niedersausen ließ. Er brach zusammen. Seine Beine zuckten schwach, als er mit dem Gesicht nach unten im Schnee lag.
»Lasst ihn liegen, lasst ihn liegen!«, rief Yvane und hastete auf kürzestem Weg den Hang hinunter. »Er war nicht allein.«
Varryn schlang sich den Bogen seiner Schwester über die Schulter und hob Ess’yr auf. Ihre Arme und Beine hingen schlaff herunter. Nachdem er noch ihren und seinen Speer aufgehoben hatte, eilte er Yvane nach.
Rothe wühlte mit einer Hand unbeholfen im Schnee. Aus seinen Wunden tropfte Blut und hinterließ rote Spuren in der weißen Decke.
»Wo ist mein Schwert?«, fragte er immer wieder verzweifelt.
»Lass es!«, rief Orisian und versuchte seinen Leibwächter hochzuzerren. Rothe wehrte sich.
»Rothe! Tu, was ich sage! Lass das Schwert!« Orisian merkte selbst, dass er einen scharfen Befehlston angeschlagen hatte.
»Beeilt euch!«, rief Yvane über die Schulter.
Sie folgten ihr in langen Sprüngen durch den Schnee. Rothe bildete die Nachhut, obwohl er jetzt nur noch ein Messer besaß, mit dem er Orisian und Anyara verteidigen konnte.
Die Flucht war wild und planlos, aber der befürchtete Angriff kam nicht. Als sie die Umklammerung der Wolken durchbrachen, sahen sie, dass die dunkle Linie der Bäume nicht mehr fern war. Der Schneefall ließ nach, der Hang wurde flacher.
Obwohl Orisian die Blicke starr auf die Füße gerichtet hielt, merkte er nach einer Weile doch, welch großartiges Panorama sich vor ihm auftat. Sie hatten die Nordflanke des Car Criagar erreicht. Unter ihnen lag das Dihrve-Tal, und jenseits der breiten Flussebene erhoben sich die gewaltigen Gipfel des Car Dine wie ein Spiegelbild der hinter ihnen liegenden Bergkette.
Endlich, im Schutz der ersten dürren Bäume, erklärte sich Yvane mit einer Rast einverstanden. Selbst Varryn atmete schwer, als er in die Hocke ging und Ess’yr auf den Boden legte. Die wilden Tätowierungen konnten nicht verbergen, dass er besorgt wirkte, als er sich über seine Schwester beugte und ihren Atem überprüfte. Vorsichtig tastete er ihren Oberkörper nach Verletzungen ab. Dann kauerte er nieder und strich ihr sanft die Haare aus der Stirn.
»Wie geht es ihr?«, keuchte Orisian.
»Gebrochen.« Varryn deutete auf seine Rippen. »Hier.«
» Lamman -Wurz hilft da am besten«, meinte Yvane geistesabwesend. Mit zusammengekniffenen Augen spähte sie zur Hügelkuppe hinauf. »Aber wir haben jetzt keine Zeit, nach Heilpflanzen zu suchen.«
Rothe stand neben ihr und suchte die oberen Hänge ebenso gründlich ab wie sie. Die fernen Wolkenbänke, die die Höhen immer noch einhüllten, bildeten eine undurchdringliche Wand. Nirgends waren Verfolger zu entdecken.
»Vielleicht geben sie nach dieser Niederlage die Jagd auf«, sagte er.
»Vielleicht«, murmelte Yvane. »Habt Ihr etwas dagegen, wenn eine Na’kyrim Euer Handgelenk versorgt?«
Rothe schüttelte den Kopf. Er wandte sich um und beobachtete Varryn, während Yvane unter ihrem Umhang nach Verbandsmaterial suchte. »Du zielst haarscharf«, sagte er.
»Kyrinin zielen immer gut«, entgegnete Varryn schroff, aber gleich darauf schien er sich eines Besseren zu besinnen. »Nicht haarscharf«, fügte er hinzu und schaute den Leibwächter an. »Ich wollte Auge treffen.«
»Dennoch – der Pfeil hat uns viel Ungemach erspart«, meinte Rothe.
Varryn zuckte mit den Schultern, eine Geste, die längst nicht mehr so kühl wirkte wie früher. Sie rasteten eine Weile und setzten dann ihren vorsichtigen Abstieg fort. Ess’yr kam zu sich und fasste sich stöhnend an die Rippen. Ihr Gesicht war blasser als je zuvor. Varryn stützte sie auf dem Weg nach unten.
Anders als im Glas-Tal bestanden die Wälder hier hauptsächlich aus Kiefern. Die meist schmächtigen Bäume waren von der Kälte und vom Wind verkrümmt, standen aber an manchen Stellen so dicht, dass sie schwarze Schatten warfen. Ein Teppich aus braunen Nadeln und borstigem Gras bedeckte den Boden. Hier und da hatten verborgene Felsen oder Steine Baumwurzeln an die Oberfläche geschoben. Die Gegend erinnerte an die alten Geschichten
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