Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
Orisian fragte sich, wie lange sie diesen Marsch durchhalten konnten. Er wäre am liebsten losgelaufen, doch das hätte nur vorzeitige Erschöpfung bedeutet. Ohne es recht zu merken, zog er sein Messer aus der Scheide.
»Sie sind da!«, rief Ess’yr. Im nächsten Augenblick warfen sie und Varryn sich herum, traten einen Schritt zur Seite und zückten die Speere.
»Der Nebel wird dünner«, sagte Rothe. Und dann tauchte die Bestie auf.
Orisian hatte nur einen Lidschlag lang Zeit, die Szene aufzunehmen und zu verarbeiten: ein Riesenhund, kraftvoll und wild wie ein Eber. Schnee stob auf, als er aus den Dunstschleiern hervorstürmte. Ess’yr war ihm am nächsten, und er rannte geradewegs auf sie zu. Sie spannte die Schenkel an und ging leicht in die Knie. Varryn rührte keinen Finger, um seiner Schwester beizustehen; er starrte angespannt den Hang hinauf, in die Richtung, aus der das Tier gekommen war.
Der Hund sprang. Ess’yr warf sich zur Seite und wehrte ihn mit dem Speerschaft ab. Die Bestie schlitterte den Hang hinab und hinterließ eine breite Furche im Schnee.
»Zurück!«, rief Orisian seiner Schwester zu.
Rothe tat einen gewaltigen Satz nach vorn, packte Anyara an der Schulter und schleuderte sie aus dem Weg, als der Hund herumrollte und wieder auf die Beine kam. Er war schnell und beweglich für seine Größe. Rothe ging mit dem Schwert auf ihn los. Der Hund wich der Klinge aus, duckte sich kurz und sprang Rothe unvermittelt an.
Varryn schrie etwas in der Sprache der Füchse. Orisian warf ihm einen Blick zu. Er sah gerade noch, wie der Kyrinin den Kopf einzog, um dem Armbrustbolzen auszuweichen, der aus den Dunstschwaden heranschwirrte. Varryn ließ den Speer fallen und riss sich den Langbogen von der Schulter.
Rothe stieß einen Wut- oder Schmerzensschrei aus. Er wälzte sich am Boden und versuchte den Hund abzuschütteln, der sein Handgelenk mit kräftigen Kiefern umklammert hielt. Sein Schwert war nirgends zu sehen. Anyara schrie ebenfalls, während sie mit ihrem Wanderstock wild auf das Tier einschlug. Das Knirschen von Holz auf Knochen verriet, dass sie ihr Ziel traf, aber die Bestie schüttelte die Hiebe ab, als seien es Mückenstiche. Orisian warf sich von hinten über den Angreifer. Er spürte die mächtigen Nackenmuskeln, roch das feuchte Fell. Dann stieß er ihm den Dolch zwischen die Rippen, immer und immer wieder, bis er merkte, dass der Körper des Hundes erschlaffte.
Er hob benommen den Kopf und sah den Jäger noch vor dem Kyrinin. Der Mann schien sich aus dem Nebel zu formen und rannte leichtfüßig auf Ess’yr zu, in der Hand einen Schlagstock mit Klingen an beiden Enden.
Orisian wollte Ess’yr warnen, aber noch ehe er ein Wort herausbrachte, hatte der Inkallim sie erreicht. Obwohl der Angriff unerwartet kam, konnte die Kyrinin ihren Speer hochreißen. Ohne seinen Lauf zu zügeln, wich der Inkallim zur Seite. Die Speerspitze streifte seine Flanke, verfing sich in seinem Wildlederwams und riss ihn herum. Er drehte sich einmal im Kreis. Sein Schlagstock beschrieb einen weiten Bogen, so schnell, dass das Auge kaum folgen konnte. Ess’yr war beweglicher als jeder Mensch, aber nicht flink genug. Der Stock traf sie unterhalb des Brustbeins und schleuderte sie durch die Luft wie eine Kinderpuppe. Ein Stück entfernt landete sie im Schnee und rührte sich nicht mehr.
Rothe schüttelte Orisian und den toten Hund ab und sprang auf. Er umklammerte das blutende Gelenk mit der unversehrten Hand und wankte dem Inkallim entgegen.
Varryn zischte; es war ein schriller Laut, der nichts Menschliches an sich hatte. Der Inkallim drehte den Kopf in seine Richtung. Varryn stand reglos da, in der Pose des Jägers, der im nächsten Moment seine Beute erlegen würde – breitbeinig, den Atem angehalten, die Bogensehne gespannt, die Pfeilbefiederung dicht neben der Schläfe. Der Inkallim setzte zum Sprung an. Der Pfeil schnellte von der Sehne, überwand im Nu den Abstand zwischen Kyrinin und Mensch und blieb in der Wange des Inkallim stecken. Im gleichen Augenblick, da er die Bogensehne losließ, rannte Varryn auf Ess’yr zu.
»Mein Schwert!«, schrie Rothe.
»Ich sehe es nicht!«, hörte Orisian seine Schwester rufen.
Der Jäger-Inkallim wandte sich schwankend dem Leibwächter zu. Varryns Pfeil ragte ihm aus dem Gesicht, gefangen in einem Nest aus Blut und Knochensplittern. Ein irres Grinsen verzerrte seine Züge. Blut lief ihm aus dem Mund. Orisian schleuderte seinen Dolch; er war ungeübt in der
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