Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
nachdenkliche Schweigen. Sie war die Jüngste im Konklave. Man hatte sie nach nur vier Jahren Aufenthalt in Highfast in die Ratsversammlung geholt. Ihre schnelle Auffassungsgabe und ihr Talent im Umgang mit dem Reich des Geistes hatten ebenso viel mit ihrem steilen Aufstieg zu tun wie ihr Hintergrund: Eshenna war von Dyrkyrnon nach Highfast gekommen. Jener Zufluchtsort der Na’kyrim tief in den Marschen der Reiher-Kyrinin war eine völlig andere Welt als das von Askese und Disziplin geprägte Highfast. Nur am geheimen Inneren Hof des Königreichs Adravane gab es mehr hochbegabte Na’kyrim als in Dyrkyrnon.
Von allen Mitgliedern des Rates bereitete Eshenna der Auserwählten Cerys am meisten Grund zur Besorgnis. In der jungen Frau brannte ein Feuer, das Highfast noch nicht voll zu seinen eigenen Zielen einzusetzen vermochte. Sie studierte und forschte so leidenschaftlich wie alle anderen, aber die Welt draußen lockte sie immer noch stärker, als es sich für ein Konklave-Mitglied geziemte.
»Verzeiht meine Begriffsstutzigkeit, Auserwählte«, sagte Eshenna, »aber ich möchte klären, ob ich Olyns Worte richtig verstanden habe. Will er zum Ausdruck bringen, dass Inurian von einem der Unseren getötet wurde?«
Cerys seufzte. »Wie Olyn vorausschickte – wir haben keine Gewissheit. Aber es … könnte so sein.«
»Das ist schwer zu glauben«, fuhr Eshenna fort. »Es muss eine Ewigkeit her sein, seit ein Na’kyrim einen Artgenossen umbrachte.«
»Es geschah vor einiger Zeit in Koldihrve«, warf Olyn ein. »Und einmal zu Beginn der Sturmjahre, aber das liegt mehr als zweihundert Jahre zurück. Hyrungyr tötete damals mindestens zwei Na’kyrim im Auftrag von Amgadan dem Stellmacher, der die Burg bei Asger Tan verteidigte. Noch früher, während der Drei Königreiche und im Krieg der Befleckten, war es natürlich nichts Ungewöhnliches.«
Zerstreut trommelte Mon Dyvain mit den Fingerspitzen auf dem uralten Holz der Tischplatte herum.
»Vergangenheit, zu neuem Leben erweckt«, murmelte er.
»So ist es wohl«, pflichtete ihm Cerys bei. »Einige von euch wissen bereits Bescheid, andere vielleicht nicht: Als der Träumer Inurians Tod verkündete, erwähnte auch er einen anderen. Einen Mann, dessen Anwesenheit im Reich des Geistes Tyn … beängstigend zu finden scheint.«
»Dann muss es wahr sein«, sagte Eshenna sofort. »Zweifellos trägt dieser Mann – dieser Na’kyrim , von dem der Träumer sprach – die Verantwortung für Inurians Ende.«
Cerys sah die jüngere Frau stumm an. Das Wichtigste war gesagt.
»Was werden wir also tun?«, erkundigte sich Eshenna.
»Nichts. Wir beobachten und lernen und bemühen uns, die Zusammenhänge zu verstehen, wie es unsere Pflicht ist«, erklärte Alian.
Vielleicht entging es den anderen, aber Cerys ließ sich nicht täuschen. Sie bemerkte das schwache Zucken um Eshennas Mundwinkel, als die junge Frau einen spontanen Widerspruch unterdrückte.
»Ihr habt höchstwahrscheinlich recht, Alian«, sagte Mon Dyvain, »aber diesmal ist alles ein wenig kompliziert. Wir wissen, dass Anduran der Streitmacht des Schwarzen Pfads in die Hände gefallen ist. Wir wissen, dass Inurian – Friede sei mit ihm – tot ist. Zwischen diesen beiden Ereignissen muss ein Zusammenhang bestehen.« Seine Blicke wanderten von einem Mitglied des Konklave zum anderen. »Nun, daraus lässt sich nur ein Schluss ziehen: Ein Na’kyrim , ein mordender Na’kyrim , arbeitet für den Schwarzen Pfad.«
»So muss es sein«, stimmte Eshenna zu. Aus dem Augenwinkel sah Cerys, dass Olyn niedergeschlagen nickte.
»Aber weshalb sollte ein Na’kyrim dem Schwarzen Pfad dienen?«, fuhr Mon Dyvain fort. »Die Glaubenskrieger sind nicht eben dafür bekannt, dass sie uns mögen.«
»Wer mag uns schon?«, warf Alian ruhig ein.
Cerys hob beschwichtigend die Hand.
»Lassen wir uns Zeit mit unseren Vermutungen!«, mahnte sie. »Ich hege den gleichen Verdacht wie ihr, aber wir verbauen uns vielleicht ein tieferes Verständnis, wenn wir vorschnell urteilen.«
Mon Dyvain verstand den leisen Tadel und senkte den Kopf.
Die Augen der Auserwählten ruhte auf Amonyn. Der anmutige, kräftige Mann hatte bis jetzt nichts geäußert. Das war seine Art. Er hörte zu, dachte nach und strahlte stets Ruhe und Gelassenheit aus. Er war außerdem – nach den feinen Abstufungen, auf denen solche Urteile beruhten – stärker von der Magie des Gemeinsamen Ortes durchdrungen als alle anderen in Highfast. Cerys hatte miterlebt, wie er
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