Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
ein weinendes Kind mit einer einzigen leisen Berührung beruhigt und einen durch eine Steinlawine verwundeten Kilkry-Haig-Krieger vom Rand des Todes zurück ins Leben geholt hatte. Sie hatte ihn lange Zeit geliebt, in der eher unverbindlichen Art, die den zur Kinderlosigkeit verdammten Na’kyrim eigen war, und hin und wieder fand einer von ihnen Trost in den Armen des anderen.
Er begegnete ihrem Blick.
»Hat der Träumer wieder gesprochen?«, fragte er.
»Er flüstert und murmelt. Seine Ruhe scheint gestört, aber die Schreiber konnten bisher wenig von Bedeutung aufzeichnen.«
Amonyn bedachte sie mit einem traurigen Lächeln.
»Dann gibt es für uns wohl wenig zu tun. Ich halte es für das Beste, wenn wir hier in unserer Einsamkeit ausharren und weiterhin schweigen. Mit einer Ausnahme vielleicht: Lheanor oc Kilkry-Haig sollte von unserem Verdacht erfahren.«
Cerys nickte. Sie und Amonyn dachten in den gleichen Bahnen.
»Ich habe eine Botschaft vorbereitet«, sagte sie, »die wir an den Than schicken werden, wenn das Konklave einverstanden ist. Sie besagt, dass es vermutlich einen unbekannten Na’kyrim im Glas-Tal gibt, der möglicherweise – nicht mehr als das – in Diensten des Schwarzen Pfads steht. Diese Auskunft schulden wir dem Haus Kilkray, das all die Jahre hindurch für die Sicherheit von Highfast gesorgt hat. Ob diese Warnung Lheanor etwas nutzt, weiß ich nicht.«
»Und das ist alles, was wir tun?«, fragte Eshenna.
»Die Entscheidung liegt beim Konklave, aber ich schlage vor, dass wir uns vorerst damit begnügen, den Träumer zu beobachten und seine Worte genau zu studieren. Außerdem sollten wir im Reich des Geistes weiterhin nach Störungen suchen. Auf diese Weise erfüllen wir den Auftrag, den die Na’kyrim einst von Kulkain oc Kilkry erhielten, als er ihnen Highfast übergab: Wir warten, und wir beobachten, und wir lernen.«
Die Auserwählte sah Zweifel in Eshennas Augen. Keinen echten Widerspruch, aber doch Skepsis. Sie wandte sich nach rechts. »Alian?«, fragte sie.
»Warten und beobachten«, erklärte Alian ohne Zögern.
»Warten und beobachten«, pflichteten ihr Mon Dyvain, Olyn und Amonyn bei – und nach einer winzigen Pause auch Eshenna.
Nach der Auflösung der Versammlung zog sich Cerys wieder in ihre nüchternen Gemächer zurück. Sie war erschöpft. Vorsichtig streifte sie die Kette über den Kopf und legte sie in die Eichenschatulle zurück. Sie war die neunte Auserwählte von Highfast; oft fragte sie sich, ob auch ihre ehrenwerten Vorgänger mitunter das Gefühl beschlichen hatte, ihrer Aufgabe nicht gewachsen zu sein.
Ein leises Klopfen an der Tür unterbrach die nachdenkliche Stimmung der Auserwählten.
»Herein, Eshenna!«, rief sie.
Das jüngste Konklave-Mitglied trat mit dem gebührenden Respekt ein.
»Verzeiht die Störung, Auserwählte«, sagte sie.
Cerys winkte ab und bedeutete Eshenna mit einer knappen Handbewegung, Platz zu nehmen.
»Ihr stört mich nicht, Eshenna. Das Alleinsein mit meinen Gedanken ist nicht mehr so erholsam, wie es einmal war. Ich fürchte, das gilt zur Zeit für die meisten von uns.«
Eshenna strich das schlichte Gewand um die Knie glatt. Sie konnte nicht verbergen, dass sich ihr Inneres in Aufruhr befand.
»Was wolltet Ihr mit mir besprechen?«, fragte Cerys.
»Das wisst Ihr vermutlich bereits. Es liegt mir fern, die Entscheidungen des Konklaves in Frage zu stellen, Auserwählte, aber …«
»Aber Ihr ärgert Euch über unsere Tatenlosigkeit und endlose Geduld«, beendete Cerys ihren Satz.
»Ich kann meine Gedanken nicht vor Euch verbergen.«
»Nein. Deshalb weiß ich auch, dass Ihr es gut meint und dass Eure Zweifel ehrlich sind. Aber was genau sollten wir Eurer Ansicht nach tun?«
»In diesem Punkt bin ich unschlüssig, Auserwählte. Und doch fordert mein Herz, dass es mehr sein sollte als nur zu warten und zu beobachten. Ich weiß, dass Inurian diesen Ort vor meiner Ankunft verließ, aber seit ich hier bin, habe ich nur Gutes über ihn gehört. Verdient sein Tod nicht eine größere Anstrengung? Könnte sich nicht jemand von uns nach Norden begeben, um herauszufinden, was wirklich geschehen ist?«
»Jemand von uns?« Cerys zog eine Augenbraue hoch. »Beispielsweise Ihr?«
Eshenna begegnete ihrem Blick ohne eine Spur von Verlegenheit.
»Ich kann mich gut genug gegen andere Na’kyrim abschirmen, um unerkannt zu bleiben, es sei denn, ich werde erwartet oder gesucht. Ich hätte keine Bedenken, den Versuch zu wagen,
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