Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
dass der Tod, der einen von uns ereilt hat, mehr bewirken sollte als bloßes Abwarten.«
»Eshenna«, entgegnete Cerys ruhig, »meine Trauer um Inurian ist groß. Aber es geht hier um Manuskripte. Um das Erarbeiten und Erhalten von Wissen. Nicht um eine Verurteilung oder gar Hinrichtung. Ich und das Konklave raten zu Geduld. Wir werden warten und beobachten. Falls wir zu der Erkenntnis gelangen, dass mehr geschehen muss, dann wird mehr geschehen. Ich kann Euch nicht festhalten, wenn Euer Herz nach der Welt draußen verlangt. Highfast ist kein Kerker. Aber solange Ihr hierzubleiben gedenkt, muss ich Euch bitten, der Weisheit des Konklaves zu vertrauen und Euch seinen Entscheidungen zu beugen.«
Eshenna senkte den Kopf. »Natürlich, Auserwählte«, murmelte sie, während sie sich erhob und zum Gehen wandte.
Sie hatte die Schwelle bereits überschritten, als Cerys sagte: »Ich fände es schade, Eshenna, wenn Ihr eines Tages beschließen würdet, Highfast zu verlassen. Wir brauchen manchmal … andere Blickwinkel, um unsere starren Traditionen aufzulockern.«
»Danke, Auserwählte«, hörte sie Eshenna sagen, und dann fiel die Tür mit einem Klicken ins Schloss.
Cerys fuhr sich seufzend mit den Fingern durch das Haar. Sie sehnte sich nach Tagen des Friedens und Nächten traumlosen Schlafs. Aber vermutlich war ihr weder das eine noch das andere vergönnt. Immerhin gab es kleinere Möglichkeiten der Entspannung. Sie öffnete eine Truhe und holte die Duftkerzen heraus, die sie nur selten und an ganz besonderen Abenden anzündete. Amonyn würde später vorbeischauen. Sie hatten nicht darüber gesprochen, aber sie wusste, dass er kam. Heute Nacht würden sie versuchen, einander Trost und Kraft zu spenden, um den Lärm der Welt draußen leichter zu ertragen.
IV
Der Mondpalast von Gryvan oc Haig barg hinter seinen Mauern Schätze, die selbst kühnste Träume und Vorstellungen weit übertrafen. Da gab es Edelsteine aus den Karkyre-Schluchten und den Hügeln von Far Dyne; Barren von massivem Kilkry-Haig-Silber; Stapel um Stapel der herrlichsten Felle aus den Wäldern des Nordens sowie Farbstoffe aus Nar Vay, die mit Gold aufgewogen wurden. Viele der Kostbarkeiten hatten weite Wege zurückgelegt. Die filigranen, bis ins feinste Detail ausgeführten Kupferarbeiten kamen von Tal Dyre; die prächtigen Samt- und Seidenstoffe waren aus dem tiefen Süden eingeschmuggelt worden; und die vogeleiergroßen Perlen stammten von den Austernbänken des Königreichs Dornach. Es waren Reichtümer, bei deren Anblick dem Betrachter schwindlig vor Staunen und Neid werden konnte.
Aber Mordyn Jerain sah weder Schmuck noch Gold, während er beobachtete, wie seine Buchhalter den erbeuteten Plunder aus den Städten des Geschlechts Dargannan-Haig in langen Listen erfassten. Er sah lediglich Macht und Einfluss auf den Willen anderer Menschen. Seine eigenen Schätze verschloss Mordyn hinter schweren Türen und dicken Mauern in seinem Roten Steinpalast, seine eigenen Truppen lebten abgeschieden in ihren Kasernen. Der Kanzler hatte schon vor langer Zeit erkannt, dass viele Bewohner von Vaymouth einer einfachen Denkweise verfallen waren. Sie machten ihre Entscheidung, was unter gegebenen Umständen zu tun sei, voll und ganz davon abhängig, was ihnen den größten Gewinn brachte. Und er gehörte nicht zu jenen, die über solche Schwächen die Nase rümpften. Jeder brauchte gewisse Normen, an denen sich sein Handeln messen ließ; manche hatten als Vergleichseinheit Geld und Gold gewählt, und das gab der Schattenhand die Möglichkeit, sie zu steuern.
Der Kaufmannssohn von Tal Dyre wandte sich ab und überließ die Männer ihrer Arbeit. Über verwinkelte Treppen und Gänge erreichte er das Obergeschoss des Palasts. Er hatte schon bald nach Verlassen des väterlichen Handelsschiffs erkannt, dass das Haus Haig an der Schwelle zur Macht stand. Und nun witterte er, trotz aller Unwägbarkeiten der Lage, erneut große Möglichkeiten. Das Dargannan-Haig-Geschlecht, ein aufsässiges Kind, das – kaum geboren – schon Gryvans Großvater Schwierigkeiten bereitet hatte, war zur Vernunft gebracht und so gut wie gezähmt. Lannis, das geringste der Than-Geschlechter und doch seit langem ein Stachel im Fleisch des Hoch-Thans, hatte eine entscheidende Schlappe erlitten. Selbst Lheanor oc Kilkry-Haig war geschwächt und musste sich jetzt, in Kriegszeiten, darauf besinnen, wem er den Treueid geschworen hatte. Sobald die irren Fanatiker vom Schwarzen Pfad vertrieben
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