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Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Titel: Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Ruckley
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begegneten Jienna, der Tochter des Kaufmanns, dem ein Viertel aller Standflächen gehörte. Sie war etwa im gleichen Alter wie Orisian und sehr hübsch. Die beiden Mädchen plauderten fröhlich, ohne sich weiter um Orisian zu kümmern. Als er eine der seltenen Gesprächspausen nutzte, um Jienna ein Kompliment über ihr Gewand zu machen, lachte sie, und er stellte erleichtert fest, dass es ein freundliches, ganz und gar nicht berechnendes Lachen war.
    Als sie wieder allein waren, stieß ihn Anyara an und zog ihn ein wenig mit Jienna auf. Er wurde rot und schalt sie, aber ohne größeren Nachdruck. Sie hatte bald genug von dem Geplänkel, und sie wandten sich wieder unverfänglichen Dingen zu: welche Marktstände wohl das beste Geschäft machten; wie viele Gäste zum Winterfest auf der Burg kommen und wen man in diesem Jahr zum Winterkönig krönen würde.
    Sie fanden eine Bude, in der mit Honig glasierte Plätzchen feilgeboten wurden, eine Leckerei, die ihr Vater besonders liebte. Als sie noch klein waren, hatte er ihnen von Reisen nach Drinan oder Glasbridge oft eine Tüte mit dem klebrigen Naschwerk mitgebracht, und Orisian, Anyara und Fariel hatten sich deshalb stets auf sein Gepäck gestürzt und es durchwühlt, während Kennet bis zur Entdeckung des Schatzes steif und fest behauptete, dass er diesmal mit leeren Händen heimgekommen sei. Mittlerweile waren die Rollen vertauscht: Anyara und Orisian erstanden eine Schachtel Honigplätzchen, um ihrem Vater damit eine Freude zu bereiten.

    Später machte sich Orisian auf die Suche nach Inurian. Nachdem er ihn nirgends in der Burg entdecken konnte, begab er schließlich zu der winzigen Nebenpforte hinter den Ställen. Eine schmale Öffnung in der Außenmauer, geschützt durch eine mit Eisenbändern verstärkte Tür, führte auf die dem offenen Meer zugewandten Felsküste der Insel hinaus. Dort befand sich eine primitive Anlegestelle mit einem kleinen Segelboot. Es gehörte Inurian, der es vermutlich nach seiner letzten Fahrt zum äußeren Ufer der Flussmündung an der Mole festgemacht hatte. Es war ein schlichtes, aber schnelles Boot, robust genug für kurze Fahrten bei einigermaßen gutem Wetter. Einen Sturm oder hohen Seegang würde es an diesem ungeschützten Steg allerdings nicht überdauern, und Orisian schätzte, dass es schon bald in den sicheren Stadthafen gebracht werden musste. Er genoss die seltenen Gelegenheiten, da Inurian ihn mit hinaus nahm und das Boot so flach über das Wasser schoss, dass er mit ausgestreckter Hand eine glitzernde Furche durch die Wellen ziehen konnte. Die kurze Überführung von der Burg zum Hafen bot ihm vielleicht eine letzte Gelegenheit, an Bord zu gehen, bevor der Winter sich einnistete.
    Nun, da das wuchtige Gemäuer der Burg hinter Orisian lag, störten weder Häuser noch Menschen die Aussicht nach Norden, über das Mündungsgebiet des Glas hinweg zu den aufsteigenden Höhenzügen. Der Wind schwieg, und in der Bucht herrschte eine ungewohnte Stille. Er stand da und beobachtete die weißen Seevögel, die in der Ferne dicht über das Wasser glitten. Der Car Anagais, ein zerklüfteter Gebirgskamm mit kahlen Gipfeln, der aus dunklen Wäldern aufstieg, beherrschte das nördliche Ufer. In beiden Richtungen bildeten die Bergspitzen eine schroffe Zackenlinie. Nach Norden zu, das wusste er, wurden sie immer höher, bis sie bei Glasbridge in den mächtigen Wall des Car Criagar übergingen, während sie sich weit im Süden zur windgepeitschten Landspitze von Dol Harigaig absenkten und im Meer als zerbrochenes Felsengewirr endeten. Dort draußen lag, für Orisian unsichtbar, ein ödes, vom Meer umtostes Eiland, das sich von Dol Harigaig fortstahl, als sei der letzte der Berge unversehrt ins Wasser gerutscht und versunken, bis nur noch sein Gipfel über die Brecher aufragte.
    In einer alten Legende hieß es, die Insel sei der ins Meer geworfene Leib eines Riesen, eines Geschöpfs der Ersten Rasse. Für die heutigen Bewohner von Kolglas hatte sie jedoch eine andere Bedeutung. Dutzende ihrer Angehörigen waren dort während des Fiebers in Booten mit schwarzen Segeln hinausgebracht und auf großen Scheiterhaufen verbrannt worden. Auch Orisians Mutter und Bruder hatten diese letzte Reise auf einem Totenschiff mitgemacht, in Linnen gehüllt und zusammengedrängt mit den anderen Opfern der Seuche. Bis zu jenem Schreckensjahr hatte die Insel Dromnone geheißen, ein Name aus uralter Zeit. Nun nannte sie jeder die Toteninsel.
    Orisian rutschte und

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