Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
öffnete ihre Tore, sobald sich im Osten der erste helle Streifen zeigte. Die Fackeln auf den Wehrgängen wurden gelöscht, und ein Schwarm Krähen schwirrte in den Morgenhimmel. Jenseits von Anduran fiel das Morgenlicht auf die seichten Tümpel und nebligen Inseln der Glas-Auen und weckte die Marschen aus ihrem Schlummer. Die Ruinen von Kan Avor schüttelten zögernd und schwerfällig die Nacht ab. Reiher lösten sich mit weit ausgespannten Schwingen aus dem alten Gemäuer und strichen auf der Suche nach Futter dicht über das Wasser hinweg. Draußen am Sirian-Deich hatten sich bereits in aller Frühe Arbeiter eingefunden, um jene Teile des großen Damms zu verstärken, die dem kommenden Winter vielleicht nicht mehr standhielten.
Endlich kam die Sonne nach Glasbridge und ans Meer. Auf den Docks herrschte geschäftiges Treiben. Die Fischer hatten ihre Laderäume geöffnet, und ein lebhaftes Feilschen um den Fang war im Gang. Der Glas ergoss seine Fluten in die See. Das Licht floss hinaus in die Bucht, die sich allmählich verbreiterte, und fing sich in den schaumgekrönten Wellenkämmen. Im Norden umspielte es den Felsenkamm des Car Anagais und streifte die Wipfel der dunklen Wälder, die das Ufer säumten. Im Süden verjagte es die Dunkelheit aus den Weilern und Höfen entlang der Küste, bis es schließlich auf Kolglas fiel. Wie ein wuchtiger Granithügel begrüßte die Inselburg den Morgen, und eine Lampe nach der anderen erlosch.
Wenn die Sonne am Ende dieses Tages hinter den Horizont sank, wurde der Winter geboren.
An jenem strahlenden Morgen begab sich der Than des Hauses Lannis-Haig von seiner Burg auf den Markt von Anduran. Sein halber Haushalt begleitete ihn. An der Spitze des Zugs marschierte Croesans Schildwache mit Standarten und Wimpeln. Der Than selbst, flankiert von einem Dutzend Armbrustschützen, ritt dicht hinter ihnen auf einem prächtigen, mit einer silbernen Rüstung und Schleifen am Halfter und Sattel herausgeputzten Grauschimmel. Hinter Croesan kamen Seite an Seite der Titelerbe Naradin und seine Gemahlin Eilan. Beide winkten fröhlich in die Menge, die sich am Straßenrand versammelt hatte. Es folgten der Hofstaat und eine Reihe vornehmer Besucher aus Glasbridge und Targlas. Alle waren so prunkvoll gekleidet wie zu einer feierlichen Prozession und boten zusammen mit den Fahnen, die in der frischen Brise wehten, ein farbenfrohes Schauspiel, wie es Anduran seit der Hochzeit des Titelerben vor zwei Sommern nicht mehr gesehen hatte. Die Straße, die von der Burg durch das Handwerkerviertel zu dem großen Marktplatz inmitten der Stadt führte, war von dichten Menschentrauben gesäumt, die ihrem Than begeistert zujubelten. Die neue Festhalle ragte an der Westseite des Platzes auf, ein imposanter Holzbau, der sämtliche Häuser der Umgebung in den Schatten stellte. Über dem schweren Portal mit dem reich geschnitzten Rahmen prangte das Lannis-Wappen. Croesan hielt vor einer hölzernen Bühne inne, die sich vor der Halle erhob, und stieg ab. Während sich seine Schildwache um das Podium in Reih und Glied aufstellte, betrat er, nur von Naradin und Eilan begleitet, die Große Halle.
Trotz der Aufregung draußen herrschten im Innern des leeren Versammlungssaals stille Würde und Erhabenheit. Das Gewölbe aus Eichenbalken, die hohen Wände, ja selbst die Luft im Raum schien durchdrungen von freudiger Erwartung.
Croesan wandte sich lächelnd dem jungen Paar zu.
»Es wird die glücklichste Winterwende sein, die Anduran seit vielen Jahren erlebt hat«, sagte er. Er legte den beiden die Arme um die Schultern und zog sie eng an sich. »Großvater zu sein, ist ein wunderbares Gefühl.«
»Selbst für einen Than?«, fragte Eilan.
»Vor allem für einen Than. In diesem Augenblick bedeutet mir mein Enkel mehr als alle unsere Ländereien und Burgen zusammen.«
»Vorsicht«, raunte Naradin. »Jemand könnte deine Worte hören und falsch verstehen.«
Croesan lachte und ließ seinen Sohn los, der auf den nächstbesten Stuhl zusteuerte. Eilan küsste den Than auf die Wange.
»Du wirst der beste Großvater sein, den sich ein Junge nur wünschen kann«, sagte sie.
»Danke«, entgegnete Croesan. »Hoffentlich behältst du recht.«
»Bestimmt«, erklärte Naradin mit Nachdruck.
Croesan ging auf die Hohe Tafel zu. Er blieb neben seinem Platz stehen und legte eine Hand auf den eindrucksvollen Thronsessel, den er während des Festbanketts einnehmen würde.
»Es ist schon ein seltsames Gefühl, plötzlich an
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