Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
dem Treiben zusahen, schlenderte Bair, der Stalljunge, zu den im Hof ausgebreiteten Sachen hinüber. Er versuchte nach einem aufgerollten Seil zu fassen, aber einer der Akrobaten umklammerte blitzschnell sein Handgelenk. Erschrocken riss Blair Augen und Mund auf, und wäre er nicht stumm gewesen, hätte er sicher einen Schrei ausgestoßen. Der Mann schüttelte kurz den Kopf und scheuchte Blair mit einer sanften Geste weg. Der Junge wich zurück, bis er die Pferdeboxen erreicht hatte, und beobachtete von dort aus das Geschehen.
Orisian warf einen Blick zum Himmel. Die Sonne war vor einer halben Stunde hinter den Horizont gesunken, und Schatten senkten sich über den Burghof. Bald würde man Fackeln herausbringen und anzünden, denn in der Nacht der Winterwende musste die Dunkelheit in Schach gehalten werden.
»Wir sollten uns allmählich herrichten«, sagte er zu Anyara. »Das Fest wird bald beginnen.«
Sie nickte und folgte ihm in den Wohnturm, nachdem sie noch einmal einen fast wehmütigen Blick auf die Akrobatentruppe geworfen hatte.
Drinnen waren die ersten Gäste eingetroffen und versammelten sich in kleinen Gruppen in der Großen Halle. Hier und da entstanden Stapel mit den Geschenken, die sie für den Than mitgebracht hatten. Schon jetzt herrschte eine fröhliche Stimmung. Überall waren angeregte Gespräche im Gang. Etha eilte an den Tischen entlang und warf einen letzten prüfenden Blick auf die Körbe mit Brot und die Tabletts mit Wein- und Bierkrügen. Ohne die Besucher zu beachten, murmelte sie vor sich hin. Zweifellos stellte sie im Geist eine Liste von Mängeln zusammen, um sie später an die Dienstboten weiterzugeben, welche die Tische gedeckt hatten.
»Das wird ein langer Abend«, murmelte Orisian und lächelte leicht, als ihm einfiel, dass Kylane in Glasbridge genau die gleichen Worte verwendet hatte.
»Natürlich«, entgegnete Anyara. »Das war schon immer so.«
Inurian kam ihnen entgegen, als sie nach oben gingen, um sich für das Fest umzukleiden.
»Da seid ihr ja, da seid ihr ja«, sagte der Na’kyrim .
»Ganz recht, da sind wir«, stimmte ihm Anyara zu und machte ein betont ernstes Gesicht.
»Euer Vater möchte euch beide sprechen«, fuhr Inurian fort. »Er hat mich gebeten, euch zu suchen.«
»Dann ist er also aufgestanden?« Ein schwacher Hoffnungsschimmer glomm in Orisian auf. Vielleicht hatten sich die finsteren Wolken endlich verzogen.
»Kommt und seht selbst«, erwiderte Inurian. Sie folgten ihm die Treppe nach oben.
Kennet stand aufrecht mitten in seinem Schlafgemach und betrachtete mit gefurchter Stirn den schweren Pelzumhang, den er trug. Er schaute auf, als die drei eintraten, und schon daran erkannte Orisian, dass sein Vater wieder auf dem Weg zu sich selbst war. Sein Blick wirkte klar und lebendig wie seit Langem nicht mehr.
»Dieser Umhang hat auch schon eleganter ausgesehen«, sagte der Burgherr von Kolglas düster.
Anyara schlüpfte unter seinen Armen durch und warf sich an seine Brust. Kennet schwankte kurz und schien nicht recht zu wissen, wie er sich verhalten sollte. Dann zog er seine Tochter an sich.
»Auf dem Markt gibt es haufenweise Pelze«, sagte Anyara und trat einen Schritt zurück. »Wir kaufen dir einen neuen.«
Kennet lächelte seiner Tochter zu und nahm ihr Gesicht in beide Hände. »Einverstanden. Genau das werden wir tun.«
Orisian, der seinen Vater scharf beobachtete, konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Kennet alt und müde aussah. Der Sieg über die Schatten, die ihn niederdrückten, hatte seinen Preis. Ein gewisser Glanz schien zwar in seine Augen zurückgekehrt zu sein, aber sie waren von dunklen Ringen umgeben, und die Lider hingen schlaff und schwer herunter. Das Lächeln, mit dem er Orisian nun bedachte, musste sich seinen Weg aus der Tiefe bahnen, wo es viele Wochen verschüttet und vergraben gewesen war.
»Orisian«, sagte Kennet, »komm her und lass dich anschauen!«
Er musterte seinen Sohn mit prüfendem Blick.
»Du siehst gut aus«, sagte er.
»Und dir scheint es besser zu gehen«, entgegnete Orisian. Er spürte, wie sich eine vertraute Erleichterung in ihm ausbreitete und allmählich die Anspannung verdrängte. So war es immer, wenn sich sein Vater von einer seiner schwarzen Phasen erholte – das Nachlassen der Furcht, dass die lähmende Trauer eines Tages nicht mehr von Kennet weichen und sich für immer in seinem Herz festsetzen könnte.
»Mir geht es in der Tat besser«, bestätigte Kennet. »Das liegt vielleicht
Weitere Kostenlose Bücher