Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
herrschen. Sorgt dafür, dass die Feuer lodern und der Winter mit seiner Schwärze in Schach gehalten wird. Lasst diese Nacht des Feuers und der Fröhlichkeit in den kalten Monaten, die vor uns liegen, als warme Erinnerung in euren Herzen leuchten. Als die Götter die Welt verließen, ging so viel Gutes und Helles mit ihnen fort. Aber der heilende Kreislauf der Jahreszeiten ist geblieben, und er stellt keinen geringen Segen für uns dar. Die Ruhe lindert viele Leiden. Das gilt für die Erde zu unseren Füßen ebenso wie für uns. Selbst im tiefsten Winter harrt der Sommer in den Wurzeln und im immergrünen Laub auf seine Wiederkehr. Trauern wir also, dass das vergangene Jahr in Schlaf versinkt, und freuen wir uns, dass es neu erstarkt erwachen wird.«
Er senkte den Kopf, und als er wieder aufschaute, sprach er in seinem gewohnten Tonfall.
»Nun esst und trinkt! Es ist mehr als genug für alle da. Danach ergötzt euch an Musik, Gesang, den alten Legenden und der Kunst der Akrobaten. Doch während ihr eure Teller und Krüge leert, denkt daran, dass viele, die heute Abend hier sein sollten, nicht bei uns weilen. Wir sind nicht mehr, was unsere Vorväter in den Tagen der Götter waren – die Welt bringt keine Helden mehr hervor –, aber wir sind immer noch ein robustes Volk. Allerdings bedauern wohl selbst die Robustesten unter uns, dass so viele derer, die wir schätzen und lieben, nicht mit uns feiern können. Manche, deren Plätze an dieser Tafel frei blieben, verließen uns allzu früh und ruhen im Dunklen Schlaf. Andere kehren vielleicht noch zurück. Viele der Besten unter uns kämpfen weit weg in den Bergen von Dargannan, getreu dem Eid, den unser Haus dem Hoch-Than von Haig geleistet hat. Ich weiß, dass viele von euch dies missbilligen, und eure Bedenken sind die meinen.
Dennoch – sie kämpfen für unsere Ehre, die Ehre des Hauses Lannis. Seit die Götter nicht mehr über uns wachen, seit sie unsere Schritte nicht mehr lenken, müssen wir andere Richtlinien in der Welt finden, und die Ehre ist sicherlich nicht die schlechteste Wahl. Deshalb bitte ich euch, jener rühmenswerten Krieger zu gedenken, die im Süden auf dem Schlachtfeld stehen, während wir hier die Jahreswende feiern. Hoffen wir, dass sie, wie der Frühling, bald zurückkehren.«
Lauter Beifall folgte diesen Worten. Der Lärm schreckte Idrin erneut auf, und als sich Kennet in seinen Sessel zurücksinken ließ, stieß der schwarze Vogel nach unten und landete auf Inurians Schulter. Kennet warf ihm einen ärgerlichen Blick zu.
»Könnt Ihr das Tier nicht besser in den Griff bekommen, Inurian?«, fragte er über das Getöse hinweg. »Schickt es ins Freie oder bindet es fest! Es muss doch nicht unbedingt hier herumflattern.«
»Ich bin sicher, Idrin möchte die angekündigten Darbietungen des Abends ebenso wenig versäumen wie wir, Mylord«, sagte Inurian und reichte der Krähe einen kleinen Fleischbrocken von seinem Teller. »Wenn ich ihr das verwehre, ist sie beleidigt, und das habe ich dann wiederum auszubaden.«
Kennet warf ihm einen zweifelnden Blick zu. »Nun gut, aber haltet sie wenigstens von mir fern – falls das ihr zartes Gemüt zulässt.«
Ein schwaches Lächeln umspielte Kennets Mundwinkel und verriet, dass sein Tadel nicht so ernst gemeint war. Inurian scheuchte Idrin mit einem Schulterzucken von ihrem Sitzplatz, und sie flog zurück ins Dachgebälk. Orisians Blicke wanderten zum Hauptportal. Und wirklich sprang fast im gleichen Augenblick die Gestalt, auf die er gewartet hatte, in den Saal, begleitet von Willkommensgeschrei und gespielten Entsetzensrufen der Gäste, die den Lärm in neue, ungeahnte Höhen trieben. Der Winterkönig war eingetroffen.
Eine winzige Gestalt in einem Umhang aus Tannenzweigen und mit einer Krone aus Stechpalmen- und Mistelzweigen vollführte mitten im Saal einen wilden Tanz. Der Kleine war Bair. Sein Gesicht zuckte in irren Grimassen. Etha und andere Dienstboten, die jedes Jahr den Winterkönig auswählten, hatten den Jungen gut auf seine Rolle vorbereitet.
Bair tanzte an einem der Tische entlang, schnappte sich Speisen von den Tellern der Gäste und kippte im Vorbeizappeln Becher und Krüge um. Die Leckerbissen, die er erhaschte, stopfte er sich in den Mund, bis seine Backen dick aufgebläht waren. Die Opfer seiner Diebereien drohten ihm oder machten Anstalten, ihm nachzulaufen. So arbeitete er sich die Halle entlang, bis er schließlich auf einen der Tische sprang und den Umhang so heftig
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