Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
an den Honigplätzchen, die ihr mir mitgebracht habt.«
»Oder an der Aussicht, heute Abend richtig schwelgen zu können«, warf Inurian ein.
»Still!«, schalt Kennet den Na’kyrim . »Verderbt uns nicht den Spaß an der Völlerei, nur weil Euch unsere menschlichen Fehler fremd sind, alter Freund!«
Er legte Orisian einen Arm um die Schultern und zog mit dem anderen Anyara an sich.
»Verzeiht ihr mir meine jüngste Schwäche?«, fragte er sie leise.
»Da gibt es nichts zu verzeihen«, murmelte Orisian.
»Und es ist keine Schwäche, Trauer zu empfinden«, setzte Anyara mit Nachdruck hinzu.
Kennet drückte seine beiden Kinder eng an sich und ließ sie dann los.
»Schwäche oder nicht, ihr sollt wissen, dass ich euch dies alles gern ersparen würde, wenn ich könnte. Ich liebe euch beide von ganzem Herzen und weiß, dass ihr Besseres verdient habt …« Seine Stimme stockte, und für die Dauer eines Wimpernschlags lag ein gequälter Ausdruck auf seinen Zügen. Heftig, beinahe wütend schüttelte er den Kopf. »Ich muss vor dem Fest noch ein wenig ausruhen. Aber hört mir zu. Ich habe einen Plan. Sobald der Trubel des Winterfests vorüber ist, unternehmen wir eine Reise. Es ist eine Ewigkeit her, seit wir drei gemeinsam den Mauern dieser Burg den Rücken gekehrt haben.«
»Wohin?«, fragte Anyara. »Nach Anduran?«
»Nein«, entgegnete Kennet etwas zu hastig. »Meinen Bruder können wir später einmal besuchen. Nur wir drei, dachte ich.«
»Dann schlage ich Kolkyre vor«, warf Orisian ruhig ein. »Wir könnten die Märkte und den Hafen besuchen.« Er hatte den Sitz der Kilkry-Thane selbst erst zweimal besucht, aber er mochte die lebensprühende Stadt und wusste, dass sein Vater ebenfalls gern dort weilte. Kennet hatte immer gesagt, der Wind dort komme frisch von jenseits des westlichen Horizonts, und die Luft, die man atme, sei neu, ohne jede Vergangenheit.
»Gut.« Kennet lächelte. »Kolkyre. Das ist ein lohnendes Ziel.«
Weit weg im Norden, jenseits des Tals der Steine, breitete sich eine riesige Burg an den Felsenhängen eines hohen Bergs aus – ein Labyrinth aus kantigen Wällen, Türmen und unbehauenem Stein. Hier und da hoben sich feurige Lichtpunkte gegen das Mauerwerk ab – vom Wind hin und her gezerrte Fackelflammen, die das bedrohliche Dunkel vertreiben sollten. Schneeflocken umwirbelten die Festung. Hier an den Nordflanken des mächtigen Tan Dihrin machte sich der kalte Atem des Winters schon seit vielen Tagen bemerkbar. Aber nach alter Überlieferung war dies die Nacht der Winterwende, und erst mit dem Neumond konnte man mit Fug und Recht behaupten, dass die Jahreszeit von Eis und Schnee begonnen habe.
Tief in den Eingeweiden der Burg, in einem reich mit Wolfsfellen und Wandbehängen ausgestatteten Gemach, stand ein breites Bett. Armdicke Pfosten trugen einen tief herabhängenden Baldachin. Ein eingefallener, gebrechlicher Greis schlief in seinem Schatten, in Laken und Decken gewickelt wie in einen Kokon. Auf einem Bärenpelz-Vorleger am Fußende des Betts lag ein Hund, ein alternder Jagdhund mit drahtigem grauem Fell.
Die Tür zur Schlafkammer wurde leise aufgeschoben, und ein Junge trat ein. Er trug eine Laterne, die er mit der Hand abschirmte. Der Hund hob den Kopf, gab aber keinen Laut von sich. Auf Zehenspitzen trat der Junge an das Bett heran. Der alte Mann warf sich mit einem Stöhnen herum. Erschrocken wich der Junge einen Schritt zurück. Das Licht in der Laterne flackerte kurz auf. Ein Rasseln drang aus der Kehle des Schlafenden. Er hustete und schlug die wässrigen Augen auf. Sein Kinn zitterte, als er mühsam die gesprungenen Lippen anfeuchtete.
»Verzeiht mir, Herr«, murmelte der Junge. »Es war Euer Wunsch, dass ich Euch wecke.«
Der Mann nestelte eine ausgezehrte Hand unter den Decken hervor, hob sie an das Gesicht und tastete über die eingesunkenen Wangen, als versuche er sich zu erinnern, wer er war.
»Die Heiler verboten es, aber sie sahen mich nicht kommen«, fuhr der Junge fort. »Ebenso wenig wie Eure Lady.«
»Du hast recht getan«, krächzte der Mann und ließ die Hand sinken. »Die Heiler sind Narren. Sie wissen so gut wie ich, dass all ihr Gejammer nichts nutzt, wenn ich am Ende des Wegs angelangt bin und der Tod auf mich wartet.« Der Hund richtete sich auf, als er die Stimme seines Herrn hörte, und leckte ihm die Finger der schlaff herabhängenden Hand.
»Es ist die Nacht der Wende, Herr. Die Winterwende naht.«
»Stütz mich!«, verlangte der Mann. Der
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