Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
Torflügeln, und Scharen von Inkallim strömten in das Gebäude. Sie huschten die Stiege nach oben, Mordlust in den Blicken und Blut auf den gezückten Klingen.
Anyara wurde in den Hof hinausgestoßen. Sie stürzte die Vortreppe hinunter und blieb auf dem Kopfsteinpflaster liegen. Aus Angst, dass sie zusammenbrechen könnte, wagte sie es nicht, sich zu erheben. Jemand packte sie und stellte sie grob auf die Beine. Sie kniff die Augen gegen den grellen Feuerschein zusammen, der von den brennenden Ställen kam. Überall auf dem Hof lagen Tote. In schwarzen Blutlachen spiegelten sich Flammen. Die von den hohen Mauern eingefangenen Rauchschwaden zogen nur langsam ab. Inkallim hatten die wenigen Pferde aus ihren Boxen ins Freie geführt und versuchten sie zu beruhigen. Die Tiere stampften und bäumten sich auf, scheuten vor der Hitze zurück und warfen im Licht der Feuersbrunst zuckende Schatten. Am Fuß der äußeren Hofmauer hatte man einen Berg Leichen aufgetürmt. Zusammengesunken inmitten der Toten kniete ihr Vater. Noch während sie zu ihm hinüberstarrte, schien er langsam nach vorn zu kippen.
»Vater!«, schrie sie auf. Die Hände, die sie festhielten, packten fester zu.
Eine Gruppe Inkallim kam auf sie zu und versperrte ihr die Sicht. Bei den Kriegern befand sich ein hagerer Na’kyrim , den Anyara noch nie gesehen hatte. Und sie zerrten Inurian mit sich.
Sie stieß und schlug um sich. Inurian schaute auf. Blut strömte ihm aus einer Wunde am Kopf. Er musste gestützt werden.
»Anyara«, sagte er.
»Still!«, fauchte der andere Na’kyrim .
Sie schleppten Inurian und Anyara zu den Pferden. Die Inkallim, die den Wohnturm erstürmt hatten, kamen wieder ins Freie. Sie bewegten sich zielstrebig, aber ohne Eile. Anyaras Blicke wanderten zu den Fenstern hinauf. Alle waren dunkel. Dann wurden Anyara und Inurian gefesselt und quer über zwei Pferde geworfen. Krieger schwangen sich hinter ihnen in die Sättel. Hitze drang schmerzhaft in Anyaras Augen, als ein Windstoß Funken und Rauch durch den Hof wirbelte. Das Pferd sprang ängstlich zur Seite und hätte sie um ein Haar abgeworfen, aber eine ruhige Hand hielt sie fest.
Im Nu hatten sich die Inkallim gesammelt. Es waren nicht ganz so viele wie zu Beginn des Überfalls, aber ihre Verluste hielten sich in Grenzen. Eine der Frauen erteilte kurze Befehle, die Anyara nicht verstand. Ein halbes Dutzend der Inkallim bestieg die restlichen Pferde. Sie ritten an der Spitze des Zugs durch das Tor, gefolgt von den übrigen Kriegern, die in enger Formation neben den Tieren mit den beiden Gefangenen hertrabten.
Als sie den Damm erreichten, spürte Anyara die Meeresbrise im Gesicht. Sie versuchte den Kopf zu heben, aber sie wurde auf dem Pferderücken so heftig durchgeschüttelt, dass ihre Nackenmuskeln verkrampften und sie lediglich einen kurzen Blick auf die Stadt erhaschte. Das helle Leuchten kam nicht nur von den Fackeln und Freudenfeuern des Winterfestes. Häuser brannten. Über dem Spritzen und Dröhnen der Pferdehufe auf dem noch teilweise vom Wasser überspülten Damm erreichten Schreie ihr Ohr. In der Stadt wurde gekämpft.
Der kurze Weg vom Strand hinauf nach Kolglas war ein Chaos aus taumelnden Gestalten, wirren Rufen und Waffengeklirr. Die Inkallim wurden keinen Schritt langsamer, überwanden im Laufschritt die schmale Straße zum Marktplatz und rannten alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Eine Abteilung der Stadtgarnison begab sich zum Damm hinunter, angezogen vom Kampflärm auf der Insel und den Rauchwolken, die von den Burgzinnen aufstiegen. Die Männer waren zu wenige und zu überrascht, um den Inkallim Einhalt zu gebieten. Dennoch glaubte Anyara, dass die Soldaten die Eindringlinge umzingeln und in ihre Gewalt bringen würden, sobald sie den Marktplatz erreichten. Aber die Inkallim bogen in eine Seitengasse ab. Einige lösten sich von der Hauptgruppe, um die Verfolger abzufangen. Sie hörte Schreie und das Klirren von Schwertern.
Es wurde dunkler, als sie sich von der Stadtmitte entfernten. Dann kamen sie am Leuchtfeuer einer brennenden Hütte vorbei. Hitze wogte über Anyara hinweg, und kratziger Rauch drang ihr in die Lungen. Sie drehte das Gesicht zur Seite. Als sie wieder aufschaute, hatten sie den Stadtrand erreicht und hielten auf die große Straße zu, die im Süden entlang der Küste verlief. Unvermittelt und ohne sich durch Worte oder Zeichen zu verständigen, verließen die Krieger den Weg und tauchten in die Schatten der Baumkronen
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