Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
zur Seite und kauerte sich nieder. Taim trat vor, ohne lange zu überlegen, wie angesogen von der Leere, die sie hinterlassen hatte. Der prächtige Teppich unter seinen Füßen hatte ein verschlungenes Muster aus Blumen und Blättern – ein Luxus, der nicht in die schroffe Gebirgswelt von Dargannan-Haig passen wollte.
»Leert Ihr wenigstens einen Becher mit uns?«, fragte der Hoch-Than.
»Verzeiht, Sire, aber ich kam, weil ich Euch dringend sprechen muss. Ich wusste nicht, dass Ihr Gäste habt.«
»Ha!«, lachte Gryvan, während er die Keule ablegte und sich die Finger an einem Kissen abwischte. »Natürlich habe ich Gäste! Was sonst hattet Ihr in einer Nacht wie dieser erwartet?«
»Natürlich«, räumte Taim ein. Er fühlte sich unbehaglich, angestarrt von so vielen Augenpaaren. Er wusste, dass er hier keine Freunde hatte. Hierherzukommen war ein Fehler gewesen, aber er konnte seit dem Gemetzel an der Feste An Caman kaum noch klar denken. Die Truppen von Lannis und Kilkry hatten letzten Endes eine Bresche in die Mauern jener Bergfestung geschlagen – und dabei mehr als zweihundert Mann verloren. Das nachfolgende gnadenlose Massaker sämtlicher Gefangenen war ihm ebenso unnötig erschienen, umso mehr, als sie nur Tage später die Nachricht von Igryns Gefangennahme erhalten hatten. Der einst so mächtige Than des Hauses Dargannan war in einer verlassenen Schäferhütte aufgestöbert worden, umgeben von einer Handvoll erschöpfter und halb verhungerter Männer seiner Schildwache.
»Nun«, sagte Gryvan, »wenn Ihr uns nicht Gesellschaft leisten wollt, dann kommt rasch zur Sache!«
»Sire …«, begann Taim. Ein heftiges Stöhnen unterbrach ihn. Hinter dem Kreis der schmausenden Krieger und Höflinge lag Igryn oc Dargannan-Haig, auf einem Strohsack zusammengerollt wie ein verängstigtes Kind. Er hatte Taim den Rücken zugewandt und die Knie bis an die Brust gezogen. Dennoch erkannte Taim den schmutzigen Verband um seinen Kopf. Die Schultern des besiegten Thans zuckten, und ein Schauer durchlief seinen Körper.
Gryvan warf seinem Gefangenen einen Blick zu.
»Ach ja«, sagte er leichthin. »Wie Ihr seht, gibt uns auch unser abtrünniger Freund Igryn heute Abend die Ehre.«
»Es scheint ihm schlecht zu gehen«, murmelte Taim. Er wusste das Bild, das sich ihm bot, richtig zu deuten. In alten Zeiten hatten sie es die Gnade der Könige genannt – das Schicksal derer, die ihre Hand nach dem Thron ausstreckten und ihn nicht erreichten.
»Leider, ja«, bestätigte Gryvan. »Wir mussten ihm das Augenlicht nehmen, damit er besser in sich gehen und über seine Torheit nachdenken kann. Nennt mir Euer Anliegen, Narran.«
Die Schärfe in der Stimme des Hoch-Thans brachte Taim zur Besinnung. Er räusperte sich.
»Ich bräche gern morgen früh mit meinen Männern auf, Sire.«
Gryvan zog die Augenbrauen hoch. »Wir marschieren in zwei Tagen. Das wisst Ihr. Eben erst habe ich Reiter mit der Siegesbotschaft nach Varmouth entsandt. Ich will, dass uns allen ein triumphaler Empfang bereitet wird.«
Vollkommene Stille breitete sich aus. Die Gäste des Hoch-Thans beobachteten die Szene mit gebannter Aufmerksamkeit.
»Meine Männer sehnen sich nach der Heimat, Sire. Sie haben genau wie ich ihre Frauen lange nicht gesehen. Es ist Winter geworden. Wir brauchen mindestens einen Monat, um den Rückweg zu bewältigen – wahrscheinlich aber länger, da wir viele Verwundete und Kranke haben, die wir tragen müssen. Mit jedem Tag, den wir zuwarten, wird das Wetter in Kilkry und Lannis unwirtlicher.«
»Und die Feiern?«, fragte Gryvan mit gespielter Besorgnis. »Gönnt Ihr Euren Männern keine Ruhepause? Oder wollt Ihr ihnen das Lob für den Sieg vorenthalten, den auch sie errungen haben?«
Die Worte trafen Taim wie Stachel und schürten endlich doch den Zorn, den Kale in ihm geweckt hatte.
»Weder ihnen noch mir ist zum Feiern zumute«, erklärte er.
Der Hoch-Than musterte ihn einige Augenblicke lang. Er schien im Begriff, etwas zu erwidern, ließ sich dann aber unvermittelt auf die prall gefüllten Kissen zurückfallen.
»Ach, welche Rolle spielt das noch? Geht, wenn Ihr unbedingt fort wollt. Nehmt Eure Männer mit. Ich werde es nicht verhindern.«
Taim bemühte sich, seine Erleichterung zu verbergen. Er verneigte sich vor dem Than der Thane und zog sich Schritt für Schritt zurück.
»Ich danke Euch, Mylord. Wir ziehen im Morgengrauen los.«
Er drehte sich um und öffnete den Zeltausgang.
»Narran«, sagte der Hoch-Than
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