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Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Titel: Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Ruckley
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Tätowierungen, von denen sie schon so oft gehört hatte – Wirbel und Spiralen aus dünnen blauen Linien, die wie grausige Masken die Gesichter bedeckten. Wenn die Geschichten stimmten, die man sich erzählte, dann handelte es sich um Ehrenzeichen, die nur den tapfersten und wildesten Kriegern der Kyrinin zustanden. Erst jetzt, da sie nur wenige Schritte von ihr entfernt kauerten und sich im Flüsterton unterhielten, kam Anyara zu Bewusstsein, wie wenig sie mit den Menschen gemeinsam hatten. Der Unterschied lag in ihrer kühlen Distanz und selbstsicheren Anmut, in ihrer Haltung und gestenreichen Körpersprache.
    Nach einiger Zeit erhoben sich die Kyrinin, strebten zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und waren gleich darauf verschwunden.
    »Sie halten nach Verfolgern Ausschau«, flüsterte Inurian. Er sah weniger blass und eingefallen aus als am frühen Morgen.
    »Sie werden keine aufspüren«, fuhr er fort, mehr zu sich als an Anyara gewandt. »Wir sind zu weit und zu schnell vorgedrungen. Bestenfalls andere Kyrinin könnten auf diesen verschlungenen Wegen mit uns Schritt halten.« Er kaute an der Unterlippe. »Aber wohin bringen sie uns?«
    Ein Inkallim-Schwertkämpfer baute sich vor ihnen auf. Er deutete mit einem Wasserschlauch auf Anyara. Sie widerstand dem Impuls, den Kopf zu schütteln. Sie hatte Durst und gewann nichts, wenn sie dies leugnete. Der Krieger hielt ihr den Schlauch an den Mund, während sie trank. Dann bot er ihn Inurian an, doch der Na’kyrim beachtete ihn nicht.
    »Doch nicht etwa zu einem Schleiereulen- Vo’an ?«, überlegte Inurian, als sich der Inkallim entfernte. »Oder gar nach Kan Dredar?«
    »Wir werden es früher erfahren, als uns lieb ist«, entgegnete Anyara niedergeschlagen.
    Inurian schaute sie an, als erinnere er sich jetzt erst, dass er nicht allein war.
    »Das ist wahr«, sagte er. »Das ist wahr.«
    »Weißt du, wo wir sind?«, erkundigte sich Anyara.
    Inurian runzelte die Stirn. »Nicht genau. Wir sind stetig tiefer in nordöstlicher Richtung in die Wälder von Anlane vorgedrungen und haben nachts den Weg von Kolglas nach Drinan gekreuzt. Das ergibt wenig Sinn, es sei denn, sie beabsichtigen, den Winter hier zu verbringen. Und das werden wohl selbst die Inkallim vermeiden, auch wenn sie Unterstützung von den Kyrinin erhalten.«
    Anyara seufzte. Sie fing den finsteren Blick eines ihrer Bewacher auf und schlug die Augen nieder.
    »Sie müssten wahnsinnig sein, um so etwas auch nur in Erwägung zu ziehen«, murmelte sie.
    »Nicht wahnsinnig, sondern nur ihrem Glauben treu«, widersprach Inurian. »Schließlich haben sie nichts zu verlieren. Ein Scheitern bedeutet nicht mehr und nicht weniger als den Tod. Und sterben müssen sie, um in die Welt einzugehen, der ihr ganzes Sehnen und Trachten gilt. Das Diesseits ist ihnen verhasst.«
    »Warum helfen ihnen die Schleiereulen?«
    »Das wüsste ich auch gern«, entgegnete Inurian leise, »aber ich denke, dass unser unangenehmer Freund Aeglyss irgendwie damit zu tun hat.«
    Sie schwiegen eine Zeit lang.
    »Inurian …«, begann Anyara nach einer Weile, »mein Vater …«
    Seine Muskeln spannten sich an, als wolle er sie in die Arme schließen, aber die Stricke, mit denen er gefesselt war, gaben nicht nach.
    »Es tut mir so leid, Anyara. Wir versuchten ihn zu schützen, doch es waren einfach zu viele Gegner.«
    »Orisian?«
    »Ich weiß es nicht. Ich hätte alles darum gegeben, diesen Überfall zu verhindern, aber ich war zu langsam. Und ich misstraute meinen eigenen Instinkten. Mein Talent reichte nicht aus. Ich wusste, dass etwas nicht stimmte, aber … irgendwie schaffte es Aeglyss, meine Wahrnehmungen abzustumpfen. Ich wollte noch nie stärkere Gaben oder einen engeren Kontakt zum Gemeinsamen Ort, Anyara. Aber jetzt wünsche ich mir nichts sehnlicher.«
    Er ließ den Kopf nach vorn sinken. Anyara spürte das Echo seines Schmerzes so stark, dass sie sich am liebsten abgewandt hätte.
    »Dabei warnte ich deinen Bruder erst vor wenigen Tagen davor, dass es unklug sei, sich unerfüllbare Dinge zu wünschen«, sagte Inurian leise.
    Sie saßen schweigend da, und jeder von ihnen sehnte sich auf seine Weise nach einer Welt, die anders war als die Welt, die sie kannten.

    An diesem Abend machten sie erst lange nach Einbruch der Dunkelheit auf einer engen Lichtung Halt und schlugen dort ihr Nachtlager auf. Die beiden Gefangenen wurden getrennt. Anyara rollte sich auf dem Boden zusammen, den Kopf gegen ein Grasbüschel

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