Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
nichts aus ihrem schlechten Benehmen, Schwester«, sagte der Titelerbe und erhob sich. »Sie hat eine anstrengende Reise hinter sich. Ich glaube nicht, dass sie die Gesellschaft von Inkallim und Waldelfen gewohnt ist.«
Die übrigen Anwesenden lachten spöttisch. Anyara fühlte sich von einem Wolfsrudel umzingelt, das zu satt war, um sie in Stücke zu reißen, sie jedoch gern leiden sah und deshalb nicht freigab. Angst und Wut kämpften in ihrem Innern um die Vorherrschaft, bis die Wut die Oberhand gewann.
»Ich konnte mir meine Gesellschaft nicht aussuchen«, fauchte sie. »Ihr jedoch habt freiwillig Raben, Waldelfen und Tarbains zu Verbündeten gewählt. Wollte keines der übrigen Häuser mit Euch kommen? Horin-Gyre hat offenbar noch weniger Freunde, als ich dachte.«
Kanin lächelte sie an. Seine Zähne blitzten. »Wir haben offenbar die richtigen Verbündeten, um Euch zu brechen. Und ich habe weder Haig-Krieger auf den Wällen von Croesans Feste noch Kilkry-Reiter in eurem Tal gesehen. Wo sind Eure Freunde, Gnädigste?«
»Unterwegs«, stieß Anyara hervor.
»Wie die unseren«, sagte Wain mit der ruhigen Zuversicht, die Anyara gern selbst gespürt hätte. »Das Haus Gyre wird vor dem Haus Haig hier sein. Haltet Ihr uns für Dummköpfe, die ihre albernen Spielchen treiben? Wir haben Euch lange beobachtet, Kind, während das Herzfieber wütete und Gryvan oc Haig Eure besten Krieger fortholte. Wir haben Euch beobachtet und auf den richtigen Zeitpunkt gewartet. Der ist jetzt gekommen.«
»Ich halte Euch dennoch für dumm!«, schrie Anyara. »Ihr werdet hier den Tod finden, ob Ihr ihn nun fürchtet oder nicht …«
»Nicht vor Euch«, unterbrach Wain sie. »Oder vor Eurem Vater. Hat er den Tod gefürchtet?«
»Genug der Freundlichkeiten«, erklärte Kanin. Anyaras Ausbruch hatte ihn nicht im Geringsten aus der Ruhe gebracht, während sie in Wains Blicken einen Anflug von Zorn zu erkennen glaubte. »Sie sind mir selbst in besseren Zeiten zuwider. Bringt unsere Gäste zu ihren Nachtquartieren. Ich hoffe, das Stadtgefängnis trifft ihren Geschmack.«
Wachen traten vor, um die Gefangenen aus dem Haus zu führen.
»Ein Wort noch zu Euch, bevor Ihr geht, Halbblut«, sagte Kanin mit mahnend erhobenem Zeigefinger zu Inurian, den er bis jetzt überhaupt nicht beachtet hatte. »Ich vermute stark, dass Ihr die eine oder andere Hinterhältigkeit auf Lager habt, für die Mischlinge berüchtigt sind, wenngleich Aeglyss einmal erwähnte, dass Euer Talent in dieser Hinsicht nicht besonders ausgeprägt ist. Dennoch werden wir Wachen von Euch fernhalten und uns stattdessen auf Mauerwerk und Gitterstäbe verlassen. Und Ihr könnt sicher sein, dass wir Eure junge Begleiterin ständig im Auge behalten. Sie stirbt sofort, wenn wir den Verdacht hegen, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Und Euer eigener Tod wird in diesem Fall mehr als unangenehm sein. Noch spiele ich mit dem Gedanken, Euch eines Tages für irgendjemanden als nützliches Geschenk zu verwenden, aber begeht ja nicht den Fehler und glaubt, dass ich Euer Leben höher einschätze als das eines Hunds.«
»Das wäre mir nie in den Sinn gekommen«, murmelte Inurian.
»Ausgezeichnet. Nun aber muss ich mich leider von Euch verabschieden. Sollten wir uns je wieder begegnen, Anyara, dann hoffe ich, dass der Aufenthalt im Kerker Eures Onkels Eure scharfe Zunge ein wenig abgestumpft hat.«
Er verbeugte sich übertrieben vor ihr. Anyara wich erschrocken einen Schritt zurück und schalt sich insgeheim dafür. Wain nan Horin-Gyre verzog spöttisch die Mundwinkel, als die Wachen sie aus dem Raum brachten.
Andurans Gefängnis lag in der Nähe der langen, breiten Straße der Zünfte, die vom Marktplatz durch den nördlichen Bezirk der Stadt zur Burg hin verlief. Der Regen prasselte jetzt so heftig auf Anyara und Inurian nieder, dass ihre Kopfhaut schmerzte. Immer wieder mussten sie Gegenständen ausweichen, die in den Pfützen und Rinnsteinen lagen, verloren bei der hastigen Flucht oder weggeworfen von plündernden Soldaten – hier eine Stoffpuppe, dort ein einzelner Handschuh, hier die Haube einer Matrone, dort das Einschlagtuch eines Säuglings.
Die Eindringlinge lauerten in vielen der Gebäude, wo sie Schutz vor dem Regen gesucht hatten. Grimmige, feindselige Gesichter starrten Anyara und Inurian aus Hauseingängen entgegen. Einmal warf jemand aus einem der oberen Stockwerke ein angebissenes Stück Brot herunter, das von Anyaras Schulter abprallte. Sie watete weiter
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