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Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Titel: Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Ruckley
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Kyrinin-Totenstäbe, die kein neues Laub gebildet hatten. Ihr Anblick weckte die Vorstellung von Geisteraugen, die ihn anstarrten. Die zahllosen Zweige der lebendigen Weiden stießen seufzend aneinander. Jeder Baum, erkannte er, markierte das Grab eines Kyrinin und umfing mit seinen Wurzeln die Gebeine in der weichen Erde.
    »Zur Weide geschickt«, murmelte Ess’yr.
    Ein kühles Grab, dachte Orisian, im feuchten Grund an einem Waldbach. Er wusste seit Langem, dass die Kyrinin ihre Toten beerdigten, anstatt sie zu verbrennen, wie es in seinem Volk Brauch war. Allerdings hatte er, soweit er sich erinnern konnte, noch nie von den Bäumen gehört. Ihm kam der Gedanke, dass er bei Jagdausflügen mit seinem Vater oder mit Croesans Leuten vermutlich an solchen Stätten vorbeigekommen war. Wie viele Kyrinin mochten die Pferdehufe in ihrer Totenruhe gestört haben?
    »Die Kar’hane tun dir nichts, wenn du wohlmeinend bist«, erklärte sie, als sie zurück zum Vo’an gingen.
    »Und was geschieht mit jenen, die nicht wohlmeinend sind?«, wollte Orisian wissen.
    Anstatt seine Frage zu beantworten, sagte Ess’yr: »Inurian mag die Dyn Hane . Er nennt sie Orte des Friedens. Deshalb zeige ich sie dir.«
    »Danke.«
    Als sie in das Vo’an zurückgekehrt waren, lenkte Ess’yr den Blick auf das aus Zweigen geflochtene Gesicht. Wie stets erschien es ihm finster, als sei ein Knäuel sich windender Schlangen plötzlich mitten in der Bewegung erstarrt.
    »Du fragst, was das ist. Es ist …« Ess’yr suchte mühsam nach einem Begriff oder Satz der Erklärung. »… ein Fänger der Toten. Es ist Anhyne . Ein Abbild der Anain.«
    Im gleichen Moment, da sie die Worte aussprach, konnte er es selbst sehen, und er fragte sich, warum er nicht längst von selbst darauf gekommen war. Die Anain hatten nichts mit den anderen Rassen gemein; sie waren den Göttern näher, wie manche sagten. Wenn sie überhaupt eine äußere Form besaßen, was viele verneinten, dann war es die Form von zu Leben erwecktem Holz, von Zweigen und Laub. Genau dies hatten die Kyrinin darzustellen versucht – die schwer fassbare Vorstellung vom Grün der Erde, das Wildnis und Wälder durchströmte.
    Was Orisian von den Anain wusste, war halb Mythos, halb Gerücht. Es gab nicht mehr als eine Handvoll Legenden über Menschen, die einem jener Geschöpfe begegnet waren, und kaum eine nahm ein gutes Ende. Eine der Geschichten war allen Huanin und Kyrinin bekannt: Gegen Ende des Krieges der Befleckten, als Tane niedergeworfen und die Macht der größten Kyrinin-Clans gebrochen war, hatten sich die Anain endlich zum Handeln aufgerafft. Sie hatten ein riesiges Labyrinth aus Bäumen errichtet – den Tiefen Wald –, das Tane und die Ländereien ringsum verschlang. Es bildete eine undurchdringliche Barriere zwischen den Heeren der Huanin und den nach Osten fliehenden Kyrinin. Damit – sowie mit der Belagerung und dem Untergang der Stadt Tane – hatte das Blutvergießen geendet. Und hier, im friedlichen Herzen des Vo’an , befand sich ein Symbol jener furchtbaren Macht, das über die spielenden Kinder und umherstreifenden Ziegen wachte.
    »Was bedeutet es?« Orisian merkte, dass er mit gedämpfter Stimme sprach.
    Ess’yr runzelte leicht die Stirn. Es war ein ungewohnter Anblick, als wäre ein Vogel an der Sonne vorbeigezogen und hätte für kurze Zeit den Hauch eines Schattens über ihre sonst so gelassenen Züge geworfen.
    »Wird der Leib eines Verstorbenen nicht in einem Dyn Hane beerdigt … dann findet der Geist keine Ruhe. Das Anhyne hält Wache. Es ruft die Anain herbei, zum Schutz gegen die ruhelosen Toten.«
    Die ruhelosen Toten, dachte Orisian. Das war ein passender Name. Er glaubte nicht an Geister – nicht an die Art von Geistern, die Ess’yr meinte –, aber Tote konnten auf vielerlei Weise Unruhe stiften.
    »Ich wusste nicht, dass es hier Anain gibt«, meinte er.
    »Sie erscheinen an ganz wenigen Orten. Im Tiefen Wald, wie ihr sagt. In Anlane, wo der Feind lauert. Din Sive. Aber das Auge ist nicht alles. Sie durchdringen die grüne Welt. Du siehst sie nicht, aber sie sind da.«
    Danach gab sie keine Erklärungen mehr ab. Aber ihre Worte verstärkten das Gefühl in Orisian, dass er beobachtet wurde. Obwohl Ess’yr darauf beharrte, dass die Anain sie beschützten, verspürte er ein Unbehagen bei dem Gedanken, unter den Blicken solcher Legendengestalten einzuschlafen. In jener Nacht sehnte er sich nach den fest gefügten, unerschütterlichen Steinwällen von

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